Zu Fuß nach Litauen

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Eigentlich heißt sie Gisela Launert. In ihrem Pass steht jedoch ein anderer Name. Aus Angst verschweigt sie ihre deutsche Vergangenheit. Die Geschichte eines sogenannten Wolfskindes.

Weder zierlich noch schüchtern. Der Blick bestimmt, die Statur groß, die Stimme sanft und tief. Gisela Launert wirkt nicht wie eine Frau, die sich versteckt. Und doch hat sie es bis zuletzt pefektioniert. Die eigene Identität abzulegen. Säße sie in einem Bus in Berlin-Spandau, würde man sie als osteuropäische Touristin einordnen. Sie spricht Litauisch, ihr Mund leuchtet roséfarben und glänzt noch vom gerade aufgetragenen Lippenstift. Ihr blauscharzes Blumenhalstuch formt sich nicht um den Hals, sondern liegt, wie in vielen slawischen Ländern üblich, auf ihren Schultern und endet zwischen ihren Schulterblättern in einem Dreieck. Ihre deutsche Muttersprache hat die Seniorin verlernt und in ihrem Pass steht auch nicht Gisela Launert. Dies ist die Geschichte eines sogenannten Wolfskindes – zu Besuch in Klaipeda, Litauen.


Gisela Launert im Interview

Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg gab es viele Waisen. Jene aus Ostpreußen sind zum Teil in die ehemalige DDR gebracht worden, unter anderem ins heutige Bitterfeld-Wolfen. Einige sind allerdings auch im jetzigen Russland geblieben. Sie flüchteten weiter gen Norden. Ihre Reise endete da, wo es noch Nahrung gab. Im benachbarten Litauen existierten auf dem Land vereinzelt solche Oasen: Bauernhöfe mit ausreichend Lebensmitteln. Bis in die 1950er Jahre hinein wurden schließlich auch die nach Litauen geflohenen Kinder aus Ostpreußen von den sowjetischen Behörden in die DDR gebracht.

Der Historiker Christopher Spatz recherchierte für sein auf Zeitzeugenberichten und historischen Dokumenten basierendes Buch „Nur der Himmel blieb derselbe“, dass die Sowjets zuletzt 1951 eine spezielle Rückführungsaktion in die DDR mit 3500 Kindern anordnete. In Deutschland wurden die vom Hunger gezeichneten Waisen anschließend mit Verwandten zusammengeführt oder kamen in ein Heim. Allerdings sind nicht alle ostpreußischen Kinder in Litauen gefunden worden. Viele hatten sich in litauischen Familien versteckt und ihre deutsche Sprache abgelegt. Aus Angst vor Repressalien seitens der sowjetischen Regierung verschwiegen die Kinder und ihre neuen Familien die deutsche Vergangenheit der Waisen. Wer von einem Transport hörte, war nicht unbedingt erfreut, sondern fürchtete ein Straflager in Sibirien.

Heute leben noch rund 50 Wolfskinder in Litauen

Zuletzt ließen die deutschen Kinder ihre Namen ändern, um vollends als Litauen zu gelten. Die sogenannten Wolfskinder aus Königberg und Tilsit leben bis heute in Litauen. Sie flohen bis 1947 zu Fuß oder unter einem Zugwaggon versteckt ins benachbarte Litauen, trennten sich von ihren Geschwistern, um weniger aufzufallen und arbeiteten unter anderem als Kindermädchen oder Bauernhelfer auf dem Land. In den 1990er Jahren waren es einst über 200, inzwischen sind es laut dem Simon-Dach-Haus Klaipeda um die 50.


Von Tilsit nach Klaipeda

Gisela Launert lebte damals in der Nähe von Tilsit, dem heutigen Sowetsk. Der Vater war Soldat in der Wehrmacht und nach Kriegsende nicht wieder aufgetaucht. Die Mutter wohnte mit Gisela und ihrer Schwester Karin in einem Dorf. An den Namen des Dorfes kann sich Gisela Launert nicht erinnern. Auch nicht an ihr Geburtsdatum. In ihrem Pass ist von der medizinischen Kommission in Litauen der 2. November 1941 eingetragen worden. „Allerdings kann ich mich noch sehr gut an die Flucht erinnern.“ Sie schätze daher, ein oder zwei Jahre älter zu sein. Fälle wie diese sind nicht selten. Durch die Hungersnot waren viele Kriegskinder unterernährt und kleiner als andere im gleichen Alter. Sie wurden folglich jünger eingeschätzt.

"Wolfskind

Gisela Launert in Litauen, Foto: Repro/M.K.

Nachdem die Russen in Ostpreußen einzogen, packte auch Familie Launert ihre nötigsten Sachen zusammen und floh. Gisela Launert erinnert sich noch an einen Handwagen, in dem sie mit ihrer Schwester saß. Zusammen mit der Mutter und den Großeltern mütterlicherseits gingen sie los, die Kinder im Wagen, die Erwachsenen zu Fuß daneben. Weit kommen sie nicht. Auf dem Weg wird die Mutter und der Großvater von den Russen getötet. Ihre Stimme verliert in diesem Satz an Tiefe. Arnold Piklaps, der Übersetzer im Simon-Dach-Haus Klaipeda, in dem das Interview stattfindet, übersetzt. Gisela Launert spricht weiter während ihre Kinnmuskeln beginnen, von oben nach unten zu schnellen. Versteckenspielen hat Gisela Launert als Überlebensstrategie gelernt, wie auch jetzt das Unterdrücken von Gefühlen. Am Ende rollt eine Träne über ihre Wangen. Sie hält inne.

Erlebnisse wie diese zeigen die Facetten des Kriegs – die Grauzonen, das Absurde und auch den potentiellen Abgrund in jedem Menschen, der im regellosen Zustand den Status des Potentiellen verlässt. Im Krieg verliert die Menschlichkeit ihr Gesicht. Es war ja Krieg. Wie ein Betrunkener, der sich seiner Macht im Suff nicht bewusst ist. Kriegstrunken. Wahrscheinlich hat Gisela Launerts Vater als Soldat Menschen getötet. Die Russen töteten anschließend ihre Mutter und den Großvater. Letztendlich wurde Gisela Launert für etwas bestraft, was sie nicht getan hat.


Gisela Launert als Jugendliche in Litauen

  • Gisela Launert als junge Erwachsene in Litauen
    Gisela Launert als junge Erwachsene in Litauen, Foto: Repro/M. Kammler

Heute lebt die Seniorin von einer kleinen Rente, die durch eine Waisenrente der litauischen Regierung aufgestockt wird. Umgerechnet 58 Euro pro Monat erhält sie als Waise. Von deutscher Seite bekommt sie nichts. „Litauen hat das für sich gelöst“, erklärt Arnold Piklaps, Leiter des Simon-Dach-Hauses in Klaipeda. Eine Form der Anerkennung oder Wiedergutmachung durch die Bundesregierung fehle jedoch bis heute. Auch das gemeinnützige Simon-Dach-Haus, welches sich unter anderem um die Wolfskinder in Litauen kümmert, erhält keine langfristige finanzielle Unterstützung aus Deutschland. Auf Anfrage beim zuständigen Bundesministerium des Innern heißt es, man könne durch einen Antrag auf Zwangsarbeit Entschädigung beanspruchen. „Zwar können die Wolfskinder einen Antrag stellen, allerdings ist das nicht ganz unproblematisch“, so Arnold Piklaps. „Es ist ein moralisches Dilemma“, ergänzt seine Kollegin Rasa Miuller. Denn jene Familien in Litauen, die die Wolfskinder einst schützten, sollen nun von den Waisen als Zwangsarbeiterfamilien deklariert werden.

vereine kritisieren Verhalten der Bundesregierung

Die Gründerin des Vereins „Edelweiß“, Luise Kazukauskiene – selbst ein Wolfskind, setzt sich mit ihrer Arbeit für die Interessen der Wolfskinder ein und ist ebenso ratlos wie wütend über die Situation der politischen Aufarbeitung: „Meiner Meinung nach sind die ehemaligen deutschen Hungerkinder der Regierung unwichtig. Im Zwangsarbeiterfall bleibt uns nur zu hoffen, dass die Beamten im Bundesverwaltungsamt mehr Sensibilität zeigen werden.“

Gisela Launert heute

Gisela Launert heute, Foto: M. Kammler

Nachdem Gisela Launerts Mutter und Großvater getötet wurden, läuft die Großmutter mit den zwei kleinen Kindern weiter. Karin Launert ist damals ungefähr ein Jahr alt. Die Großmutter gibt sie ab und läuft mit Gisela über den Memelfluss ins litauische Pogegen, ungefähr zehn Kilometer von Tilsit entfernt. Vielleicht lebt Karin Launert heute wie ihre Schwester unter einem anderen Namen weiter. Großmutter und Enkelin verstecken sich damals in einer alten Schule mit einer anderen deutschen Familie, Gisela zieht tagsüber los und bettelt. Einesabends kommt sie zurück und der Klassenraum ist leer. Gisela Launert ist nun allein. Sie läuft weiter. Weiter nach Natkiskiai, weitere 15 Kilometer. Dort bleibt sie zunächst und kommt in einer litauischen Familie als Kindermädchen unter. Wenig später wieder 15 Kilometer weiter nördlich, nach Usenai. Hier bleibt sie länger. Aus Gisela Launert wird nun Irena Jakschtaite.

„Erst da habe ich mich wie ein Mensch gefühlt.“

Einige Jahre später geht sie ein Stück weiter, diesmal 80 Kilometer bis nach Plikiai nahe Klaipeda. Gisela Launert hat Glück, sie kommt in einer Lehrerfamilie unter, wird gut behandelt und bleibt dort bis sie mit 18 ihre Jugendliebe aus dem Ort heiratet. „Erst da habe ich mich wie ein Mensch gefühlt.“ Danach zieht sie nicht mehr weiter. Sie gründet eine Familie, bekommt zwei Töchter und arbeitet in der Kolchose als Köchin. Sie spricht kein Wort Deutsch mehr, auch kein Wort über ihre Vergangenheit.

Erst Jahrzehnte später erfährt sie über das Rote Kreuz, dass ihr Vater in der DDR weiterlebte und in den 1980er Jahren gestorben ist. Wenn er noch leben würde, dann hätte sie ihn gefragt: „Wann und wo wurde ich geboren?“ Manchmal denkt sie, sie habe zu lang geschwiegen, sonst wäre sie ihrem Vater vielleicht noch einmal begegnet. Ob ihre Schwester noch lebt, weiß sie bis heute nicht. Nach der Wende hört Gisela Launert von einem Verein namens „Edelweiß“, der sich für Wolfskinder wie sie einsetzt, ihre Geschichte zu erzählen. Erst da erfährt Gisela Launert, dass es Hunderte mit dem gleichen Schicksal gibt.