Drei Herzen für Thomas Wagner. Der rote Grabstein hat eine Herzform. Er liegt auf weißem Kies, dessen Umrandung ebenfalls herzförmig ist. An einer Blumenvase hängt ein aus kleinen Steinen gefertigtes Herz. Das Urnengrab mit mehreren Sträußen auf dem Dessauer Zentralfriedhof ist liebevoll hergerichtet. Alles ist ruhig. Große Bäume schlagen Schatten. Auf einer Bank sitzt eine Frau und trauert.
Dessau im Sommer 2017 ist das Gegenteil von Leipzig im Sommer 2016. Am 14. Juli verunglückt der Internet-Unternehmer Thomas Wagner (38) mit einem Kleinflugzeug in Slowenien tödlich. Mit ihm sterben Mitgesellschafter Oliver Schilling (39), der Finanzberater Heinz Horst Beck (65) und der 73-jährige Pilot. Einen Tag zuvor war der Unister-Gründer in Venedig bei einem getürkten Kreditgeschäft um 1,5 Millionen Euro betrogen worden. Die Familie und Freunde sind geschockt, genauso wie viele der 1 400 Unister-Mitarbeiter. Wenige Tage später meldet das Unternehmen Insolvenz an. Bundesweit sorgt das für Aufmerksamkeit. Die Schlagzeilen lauten „Tragisches Ende“, „Internet-Millionär mit Falschgeld betrogen“ oder nur „Der Absturz“.
Kontakt über Linken-Politiker
Schnell ist vom Wirtschaftskrimi die Rede. Die Hauptakteure: Levy Vass, ein angeblich israelischer Diamantenhändler, der Drahtzieher. Die deutschen Vermittler Heinz Horst Beck und Wilfried Sch., die den Betrug anbahnten sowie der Leipziger Immobilien-Unternehmer Oliver B. und der Ex-Banker Karsten K., die Wagner berieten. Gelöst ist der Fall auch nach einem Jahr nicht. „Unklar ist für mich weiterhin, ob Thomas nicht eine Falle gestellt wurde“, sagt Konstantin Korosides, Wagner-Freund und langjähriger Unister-Sprecher. Er ist einer der wenigen, der sich äußert.
Die Staatsanwaltschaft Leipzig hat ein sogenanntes Todesermittlungsverfahren eingeleitet. „Die Ermittlungen in diesem Verfahren sind noch nicht abgeschlossen“, teilte die Staatsanwaltschaft am Dienstag auf MZ-Anfrage mit, da noch ein abschließender Untersuchungsbericht der slowenischen Behörden fehlt. „Nach den bislang hier vorliegenden Erkenntnissen ist von einem Unfallgeschehen auszugehen, welches nicht auf ein Verschulden Dritter zurückzuführen ist“, so die Staatsanwaltschaft. Am Morgen des Unglückstages hebt das Kleinflugzeug bei gutem Flugwetter in Venedig ab. Es soll in tadellosem Zustand gewesen sein, der Pilot ist erfahren und war laut „Sächsischer Zeitung“ bis zuletzt als Fluglehrer tätig. Der 73-Jährige steuert entlang der Adriaküste. Um 10.45 Uhr erreicht die Maschine laut Absturz-Zwischenbericht Westslowenien. Über Funk erbittet der Pilot von der Luftraumüberwachung eine Kursänderung. Es regnet, örtlich treten sogar Gewitter und starke Windböen auf. Zudem klagt der 73-Jährige über Vereisungen. Bei Temperaturen unter null Grad und hoher Luftfeuchtigkeit kann sich Eis unter den Tragflächen bilden. Dadurch verliert das Flugzeug an Stabilität. Vereisungen sind eine der häufigsten Unfallursachen bei Kleinflugzeugen.
Allerdings wurde an der Unglücksstelle das Höhenruder nicht gefunden. Erst drei Monate später, im Oktober, lassen die Slowenen das Absturzgebiet von 200 Personen und Drohnen systematisch durchsuchen. Beim dann 700 Meter vom Unfallort gefundenen Höhenruder gebe es Hinweise auf „eine Fremdeinwirkung eines anderen Gegenstandes“, teilte Toni Stojevski, Leiter Flugzeugunglücke, mit. Unklar ist allerdings, wann die Beschädigung stattfand. Wurde am wichtigen Flugzeugteil manipuliert? Oder ging es beim Absturz etwa beim Streifen der Baumkronen verloren? Das Höhenruder ist am Flugzeugrumpf nicht fest verankert. Auf MZ-Anfrage äußerte sich Stojevski bisher nicht dazu, wann der Abschlussbericht vorliegt, der womöglich endgültige Klarheit schafft.
Möglich ist nur eine Spurensuche: Der aus Dessau stammende Wagner gründet mit Freunden 2002 Unister. Die Firma spezialisiert sich auf die Online-Reisevermittlung und wird mit Portalen wie ab-in-den-urlaub.de und fluege.de in kürzester Zeit Marktführer (siehe: „Größter Reisevermittler“). Zeitweise steht Wagner allein an der Spitze von 40 Firmen. Für das Wachstum benötigt Unister viel Geld. Doch spätestens seit die Generalstaatsanwaltschaft ab 2012 gegen Wagner und andere Führungskräfte wegen des Verdachts der Steuerhinterziehung ermittelt, sind Kapitalgeber vorsichtig. Zudem zerstreiten sich Wagner und Mitbegründer Daniel Kirchhof – fortan gibt es einen regelrechten Rosenkrieg um Geschäftsanteile.
Anfang 2016 wird die finanzielle Lage offenbar eng. Der ehemalige Leipziger Linken-Landtagsabgeordnete Volker Külow kommt auf Korosides zu und bietet Unister Hilfe an. Külow vermittelt den Kontakt zum Immobilien-Kaufmann Oliver B., der wiederum den Ex-Banker Karsten K. kennt. Beide gewinnen das Vertrauen Wagners. Im Gespräch sind Verhandlungen etwa mit sogenannten Family Office, dahinter stehen zumeist reiche deutsche Unternehmerfamilien. Doch das gestaltet sich als schwierig. Also wird von Ex-Banker Karsten K. unter anderem ein Kontakt zum Finanzberater Beck hergestellt. Dieser ist zwar selbst in finanziellen Nöten, hat aber offenbar Drähte zu einem Diamantenhändler, der ein Millionen-Darlehen geben will. Im Juni 2016 treffen sich zwei Mitarbeiter Wagners im Hotel „Luisenhof“ in Hannover mit Ex-Banker Karsten K., Beck und Wilfried Sch., um Einzelheiten zu besprechen. Doch nach wenigen Minuten brechen Wagners Leute das Gespräch ab. In einer Mail an Wagner spricht einer der Männer von Zeitvergeudung: „Komplett Waste of Time. Ich glaube, wir haben die Mafia gesprochen. Morgen gerne mehr auf der Tonspur.“
Gegen den Rat von Vertrauten
Diese Details werden im Prozess gegen Wilfried Sch. bekannt, der im März 2017 in Leipzig stattfand. Der 69-jährige Rentner aus Unna (NRW), der als Finanzvermittler auftrat, wurde wegen Betrugs zu drei Jahren und zehn Monaten Haft verurteilt, dagegen hat er Revision eingelegt.
Anhand der Zeugenaussagen lassen sich die letzten Tage von Thomas Wagner recht gut wiedergeben. Gegen den Rat seiner Mitarbeiter wendet sich Wagner an Beck zur Zusendung von Vertragsunterlagen. In diesen wird ihm ein Darlehen in Höhe von 15 Millionen Euro angeboten – gegen eine Kaution von 1,5 Millionen Euro in bar. Wagner weist daraufhin enge Mitarbeiter an, das Geld von einem Geschäftskonto bei der Commerzbank abzuheben. Mit den Millionen in der Tasche reist er am 13. Juli 2016 nach Venedig, wo das Geschäft im Nobelhotel „Antonys Place“ abgewickelt werden soll. Der Flug mit dem Kleinflugzeug soll wahrscheinlich die Gepäckkontrolle verhindern. In Italien dürfen Geschäfte nur bis zu einer Höhe von 10 000 Euro mit Bargeld abgewickelt werden. Warum ließ sich Wagner darauf ein? Im Prozess sagt seine Lebensgefährtin Janka L: „Thomas vertraute Karsten K., der vertraute Wilfried Sch.“ Der Ex-Banker reist mit dem Auto nach Italien. Wilfried Sch. bleibt angeblich wegen des krebskranken Sohnes zu Hause.
Auf dem Parkplatz übergibt Wagner den Koffer mit 1,5 Millionen Euro an Vass und erhält im Austausch einen mit angeblich vier Millionen Schweizer Franken. Wenig später wollen sie den angeblichen Diamanten-Händler in einer Bank treffen, in der das restliche Geld überwiesen werden soll – doch dieser kommt nicht. Erst auf der Fahrt zum Airport stellt sich heraus, dass nur die oberste Schicht aus echten Scheinen besteht, der Rest sind Blüten. Daraufhin kehren sie um und erstatten bei der italienischen Polizei Anzeige.
Am Abend telefoniert Wagner mit seiner Freundin: „Thomas war außer sich vor Wut“, erzählte sie. Er konnte es nicht fassen, Betrügern aufgesessen zu sein.
Fahndung nach Beschuldigten
Nach dem Beschuldigten Vass wird laut Generalstaatsanwaltschaft weiter international gefahndet. Bisher erfolglos. Im Prozess stellte Oberstaatsanwalt Dirk Reuter auch die Frage, warum Karsten K. als ehemaliger Banker so blauäugig handelte. Die Ermittlungen dauern an.
Herr Flöther, was war Ihr erster Eindruck von Unister, als Sie Mitte Juli 2016 das Ruder übernahmen?
Lucas Flöther: Unister war ein sehr junges, dynamisches und schnell gewachsenes Unternehmen. Die notwendigen Strukturen waren aber nicht so schnell mitgewachsen. Da war ein Konzern unterwegs, der für den Gründer und alleinigen Unternehmenschef Thomas Wagner kaum noch beherrschbar geworden ist.
Was ist bei Unister konkret schiefgelaufen? Die Reisesparte mit Portalen wie ab-in-den-urlaub.de und fluege.de soll immer gewinnbringend gearbeitet haben.
Erstens gab es eine starke Fokussierung auf den Gründer. Das führte manchmal zu schnellen, oft aber auch zu langen und umständlichen Entscheidungsprozessen. Zweitens gab es ein regelrechtes Chaos in der Buchhaltung. Es war oft nur schwer ersichtlich, wo etwas schiefläuft und das Geld versickert. Das führt zum dritten Punkt: Einige Portale hatten sich vom Kerngeschäft wegentwickelt und mussten quersubventioniert werden.
Gibt es aus Ihrer Sicht generell Fehler, die viele Start-up-Unternehmen machen?
Unister und andere Start-up-Unternehmen denken sehr stark umsatzorientiert und weniger ertragsorientiert. Wachstum steht an erster Stelle – egal wie hoch der Preis ist.
Das liegt oft daran, dass in vielen Online-Märkten nur der Marktführer und vielleicht noch der zweite langfristig überleben.Gibt es nicht einen Zwang zum Wachstum?
Ja, das ist richtig. Es liegt aber auch häufig am Traum der Gründer, ihre Firma zu einem möglichst hohen Preis an einen etablierten Konzern zu verkaufen. Dazu ist ein gewisser Umsatz wichtig.
Sie sagten einmal in einem Interview: „Viele Start-ups bräuchte es nicht.“ Was meinen Sie damit?
Ein Gründer muss sich fragen, was ist an meinem Geschäftsmodell neu und gibt es dafür einen Markt? Das sind ganz schlichte, grundlegende Fragen, die sich nach meinen Erfahrungen aber einige Gründer dennoch nicht stellen. Deswegen scheitern auch viele. Das bleibt aber häufig unbemerkt – anders als bei Unister. Bei größeren Internet-Unternehmen kommt hinzu, dass viele mit komplexesten Finanzierungsstrukturen arbeiten, deren Wirkungen kaum zu überschauen sind. Wenn ich sage, erklären Sie mir mal bitte auf einer Din-A4-Seite Ihre Finanzierungsstruktur, werde ich mit großen Augen angeschaut.
Was hat Sie positiv bei Unister überrascht? Konnten Sie auch etwas lernen?
Mich hat auf jeden Fall überrascht, wie viel Umsatz man sich über Suchmaschinen erkaufen kann. Es ist gerade für Online-Reisevermittler äußerst wichtig, unter den ersten drei Treffern gerankt zu sein. Da der Online-Vertrieb in vielen Wirtschaftssparten immer wichtiger wird, müssen viele Unternehmen sich fragen, was das für sie bedeutet und wie sie darauf reagieren können.
Die Reisesparte, das Filetstück, wurde bereits kurz vor Weihnachten an den tschechischen Investor Rockaway verkauft. Gab es ein Bieterwettrennen, wer hat mitgeboten?
Ich kann keine Namen und auch keinen Preis nennen, weil den Investoren Vertraulichkeit zugesichert wurde. Es gab aber ein großes Interesse. An einigen Tagen ist mein Postfach mit Anfragen regelrecht übergelaufen. Am Schluss kamen 20 Interessenten in die engere Auswahl, in der Endrunde war es eine Handvoll.
Welche Töchter konnten noch gut verkauft werden?
Wir haben relativ zügig Portale wie shopping.de, news.de oder auto.de verkauft. Es gab wirklich eine hohe Nachfrage. Zu Beginn der Insolvenz bestand die Sorge, dass immaterielle Werte wie bekannte Internet-Adressen schnell an Wert einbüßen können – sich sozusagen in Luft auflösen. Das ist bei Unister trotz drastischer Reduzierung der Werbemaßnahmen während der Insolvenz nicht eingetreten – was für die Stärke der Marken des Unternehmens spricht. Schwierig ist vor allem gewesen, die gemeinsame Infrastruktur, welche die einzelnen Portale genutzt haben, voneinander zu trennen.
Sie wollen laut Medienberichten nun vom Suchmaschinenbetreiber Google einen dreistelligen Millionenbetrag für erhaltene Werbeeinnahmen zurückfordern. Warum?
Dahinter steckt der Grundsatz der Gläubigergleichbehandlung. Das heißt, einzelne Gläubiger haben in einem gewissen Zeitraum noch Geld bekommen, als Unister schon insolvenzreif war. Diese Gelder müssen zurück in die Insolvenzmasse fließen und werden unter allen Gläubigern gleichmäßig verteilt.
Konnte Google wissen, dass Unister in Schieflage war?
Google weiß doch alles. Aber im Ernst: Wir gehen davon aus, dass Google – aber auch andere Gläubiger – schon lange von der prekären Lage bei Unister wussten. Bereits im Vorfeld der Insolvenz gab es Vollstreckungen, Stundungen, Rückstände bei Zahlungen und Ratenzahlungen. Diese Indizien sieht die Rechtsprechung als geeignet an, dass Gläubiger von der Krise gewusst haben.
Sie verklagen also Google?
Als Insolvenzverwalter darf man nur Anfechtungsprozesse einleiten, wenn die Wahrscheinlichkeit hoch ist, diese auch zu gewinnen. Noch haben wir keinen Prozess angestrengt. Wir sind in der Abstimmung mit den Gläubigern. Denn es betrifft eine Vielzahl von Zahlungsempfängern.
Wie wird Wagner heute gesehen? „Thomas hat Fantastisches geleistet. Dass er sich mit solchen Leuten eingelassen hat, war aber eine riesige Dummheit“, sagt Korosides. Andere meinen: „Er hatte den Überblick und damit die Kontrolle verloren.“ Es sei ein Alleingang zu viel gewesen. Seine Lebensgefährtin sagt beim Prozess im März: Sie könne sich das Verhalten nicht erklären. Nur wenige seiner Weggefährten waren im Gerichtssaal. Viele haben mit dem Thema wohl abgeschlossen.
Fast alles ist raus: Von den Gesellschaften der ehemaligen Unister-Holding sind nach Angaben der Insolvenzverwaltung nur noch drei im Angebot.
Auch das Gebrauchtwagen-Portal auto.de fand zuletzt einen neuen Eigentümer. Dieser ist laut Impressum die VICUS Media GmbH aus Leipzig. Dahinter steht der bekannte Immobilien-Unternehmer Michael Klemmer. Zum Klemmer-Reich gehören zahlreiche Immobilien-Objekte in Leipzig und anderen Städten – aber auch der Golf & Country-Club im sächsischen Machern. Als Geschäftsführer führt auto.de der ehemalige Unister-Manager Andreas Prokop. Auch Unister-Mitgesellschafter Daniel Kirchhof mischt bei auto.de mit. Er ist nach eigenen Angaben nur beratend tätig. Klemmer ist „dicke Tinte“ mit einem anderen Leipziger Immobilien-König, Steffen Göpel. Dieser wollte einst Kirchhof schon Unister-Anteile abkaufen, daraufhin gab es einen Rechtsstreit mit Unister-Gründer Thomas Wagner. Kurz: Die ehemalige Unister-Führung ist dabei, zumindest kleinere Teile des insolventen Internet-Unternehmens wieder zu führen und auszubauen.
Das Filetstück von Unister, die Reisesparte, ging schon Ende 2016 über den Ladentisch. Der osteuropäische Finanzinvestor Rockaway hat Unister Travel komplett mit 540 Mitarbeitern übernommen. Dazu gehören bekannte Portale wie ab-in-den-urlaub.de und fluege.de. Die Tschechen betreiben mit Invia bereits einen großen Online-Reisevermittler in den osteuropäischen Staaten. Das Geld hat Rockaway von einem großen chinesischen Fonds. Bei Invia ist der ehemalige Unister-Mitgesellschafter Christian Schilling als Führungskraft tätig. Der Suchmaschinen-Spezialist leitet das Marketing.
Zum Verkauf stehen unter anderem noch der Werbe-Vermarkter von Online-Portalen, Adup, mit 20 Mitarbeitern und die Online-Forschungsfirma Keyfacts mit zehn Beschäftigten.
Nicht nur Korosides, auch andere Freunde Wagners werfen die Frage auf, ob ihm eine Falle gestellt werden sollte, um ihn aus der Firma zu drängen. So hat ein von Mitgesellschafter Kirchhof befreundeter Immobilien-Unternehmer öffentlich bestätigt, von dem Geldgeschäft in Italien vorab gewusst zu haben. Er wollte Anzeige erstatten, tat es dann aber nicht. Kirchhof streitet laut Medienberichten ab, vom Flug nach Italien gewusst zu haben. Nach dem Verlust der Millionen wäre es für Wagner bei Unister ungemütlich geworden. Sicher ist nur: Im Unister-Krimi fehlen noch einige Kapitel.