Am besten, man beginnt diese Geschichte mit einer Zahl: 35. 35 Minuten dauert seit dem 9. Dezember 2015 die Fahrt im ICE von Halle nach Erfurt. Raus aus Halles Hauptbahnhof, auf einer riesigen geschwungenen Brücke über die Saale-Elster-Aue, dann mit Tempo 230 über fünf weitere Brücken und durch drei Tunnel bis in Thüringens Landeshauptstadt. Seit einem guten Jahr ist die ICE-Neubaustrecke Halle/Leipzig-Erfurt in Betrieb. Zeit für eine kleine Bilanz. Eine Reise zu Gewinnern und Verlierern.
Der Gewinner
Wann er zum letzten Mal mit einem Fernzug gefahren ist? Da muss Bernward Küper einen Moment überlegen: „Vor einem Jahr“, sagt Naumburgs CDU-Oberbürgermeister dann, „in meine alte Heimat Münster.“ Die Verbindung dorthin sei aber über die Jahre immer schlechter geworden.
Seiner Stadt geht es gerade ähnlich. Mit dem Start der ICE-Strecke hat Naumburg vor einem Jahr schon den schnellen Anschluss Richtung Frankfurt am Main verloren. Wenn Ende 2017 der Abschnitt von Erfurt nach Nürnberg in Betrieb geht, werden auch die ICE-Züge nach München nicht mehr in Naumburg stoppen.
Dennoch sagt Küper: „Unterm Strich haben wir gewonnen.“ Zwar verliert Naumburg den ICE, doch dafür hat das Land, das für den Nahverkehr auf der Schiene zuständig ist, die Regionalzug-Verbindungen ausgebaut. Von Naumburg aus geht es jetzt öfter in Richtung Halle und Erfurt, neue Express-Linien machen es möglich. Erstmals seit Jahren gibt es wieder direkte Regionalzüge zwischen Leipzig und Naumburg. 45 Minuten dauert die Fahrt. Als man noch in Weißenfels umsteigen musste, war es mehr als eine Stunde.
Leipzig Hauptbahnhof, 8.45 Uhr. Auf Gleis 8 wartet einer der neuen Direktzüge der Linie 17. Betreiber ist das private Bahn-Unternehmen Abellio, das viele Strecken im Süden Sachsen-Anhalts von der Deutschen Bahn übernommen hat. Im mittleren Waggon sortiert ein freundlicher Mann im roten Hemd mit dunkelgrauer Weste in einem Wägelchen Mineralwasser, Limo und Sandwiches. Auf einigen Linien werden ein Imbiss und Getränke angeboten. An vielen Sitzplätzen gibt es Steckdosen zum Aufladen von Handys oder Laptops.
So etwas ist in vielen Zügen längst Standard, doch Sachsen-Anhalt hinkte lange hinterher. Die Bahn hatte auf vielen Linien alte klapprige Waggons eingesetzt. Die neuen Qualitätsstandards hat das Land vorgegeben. Die Kunden wissen das offenbar zu schätzen. Zahlen will Abellio zwar erst später vorlegen. Es zeichnet sich aber ab, dass die Zahl der Fahrgäste steigt.
Auch die Bahn meldet eine gestiegene Nachfrage auf der neuen ICE-Trasse. So hat sich nach Unternehmensangaben auf dem Abschnitt Halle-Erfurt die Zahl der Passagiere sogar vervierfacht. Klingt gewaltig, ist aber mit Vorsicht zu genießen: Mit dem Start der Neubaustrecke wurde eine neue ICE-Linie eingerichtet, es fahren zwischen beiden Großstädten jetzt also mehr Züge als vorher auf der alten Strecke durchs Saaletal.
Naumburg hat davon nichts mehr. In der Stadt haben sie ihren Frieden damit gemacht. Über Jahre gehörte OB Küper zu den Kommunalpolitikern, die vor einer Abkopplung ihrer Städte warnten, wenn die neue Trasse fertig sei. Nun räumt er ein: Der ICE-Anschluss sei prestigeträchtig, doch nennenswert Besucher habe er der Stadt nicht beschert. „Die meisten Fahrgäste sind bloß umgestiegen.“ Naumburg war zeitweise Knotenpunkt verschiedener ICE-Linien.
„Der Bund ist in der Pflicht, auch kleinere Städte ans Netz anzuschließen.“
Bernward Küper
Dennoch fordert der Politiker weiterhin einen Fernverkehrshalt für Naumburg: „Der Bund ist in der Pflicht, auch kleinere Städte ans Netz anzuschließen.“ Für Küper ist das eine prinzipielle Frage: „Da geht es auch um Daseinsvorsorge.“ So sieht das auch Dieter Stier. Gemeinsam mit Kollegen aus Sachsen, Thüringen und Bayern hat der Weißenfelser CDU-Bundestagsabgeordnete im September 2016 an Bahnchef Rüdiger Grube geschrieben. Die Bundespolitiker wollen Grube überzeugen, einen ab 2023 geplanten neuen IC im Zwei-Stunden-Takt von Leipzig über Naumburg und Jena nach Nürnberg und Karlsruhe schon ab 2018 einzurichten.
Ergebnis: offen. Aber rund 40 Kilometer von Naumburg saaleaufwärts haben Küper und Stier eine Menge Mitstreiter. In Jena.
Der Verlierer
Der Bahnhof mit dem wohl schönsten Namen der Republik duckt sich unter einen grauen Himmel. Jena-Paradies wirkt wie ein Vorort-Haltepunkt – zwei Gleise, zwei Bahnsteige, Sitzbänke, Mülleimer. Erst vor rund zehn Jahren war die Station in Laufweite der Jenaer Innenstadt für den ICE-Verkehr ausgebaut worden. Noch stoppt hier, wie in Naumburg, der ICE nach München. In knapp einem Jahr ist Schluss damit. Die thüringische Hochschulstadt, 110 000 Einwohner, 23 000 Studenten, wird dann ohne Fernverkehrsanschluss sein.
„Ein IC im Zwei-Stunden-
Takt ist besser als nichts.“
Wolfgang Meyer
Wolfgang Meyer kann das nicht verstehen. Meyer, 70, grüner Pullover zum gestreiften Hemd, ist ein angesehener Mann in Jena. 17 Jahre lang war er Geschäftsführer von Schott Jena, eine der größten Firmen der Stadt. Heute ist er Sprecher des Bündnisses „Fernverkehr für Jena“. Hinter sich versammelt er die Universität, Forschungseinrichtungen, große Unternehmen, Politiker, die Stadtverwaltung. Ihr Ziel: Jena müsse am Fernverkehrsnetz der Bahn bleiben. Die Stadt wächst seit Jahren. Das Bündnis fürchtet, dass sie an Attraktivität für Wirtschaft und Wissenschaft einbüßt, wenn sie künftig nur noch mit Regionalzügen erreichbar ist.
Beispiel Intershop: Ein großer Teil der 280 Mitarbeiter der Software-Firma, die am Hauptsitz in Jena arbeiten, ist regelmäßig in ganz Deutschland und international unterwegs. „Für sie, wie auch für die Kunden und Partner, die uns besuchen, sind schnelle Verbindungen unabdingbar“, sagt Olaf Behr, Thüringer Landesvorsitzender des Fahrgastverbandes „Pro Bahn“, der hauptberuflich bei Intershop arbeitet. „Im Zug kann man arbeiten und steht nicht im Stau. Wenn wir alle Fahrten unserer Mitarbeiter aufs Auto verlagern müssten, weil die Bahn langsamer und unkomfortabler wird, wäre das eine deutliche Verschlechterung.“
Beispiel Uni: Forscher aus aller Welt kämen zu Kongressen nach Jena, sagt Wolfgang Meyer: „Den können Sie keine langsamen Regionalzüge anbieten, in die sie auf dem Weg vom Flughafen umsteigen müssen.“ Auch Professoren, die nach Jena pendelten, legten Wert auf eine gute Bahn-Anbindung – und entschieden sich im Zweifelsfall für eine andere Uni.
Wie aber könnte die gute Bahn-Anbindung aussehen, im Nach-ICE-Zeitalter? Auch Meyers Bündnis setzt auf den IC von Leipzig nach Karlsruhe. Allerdings: „Wir stellen uns darauf ein, dass das 2018 noch nicht klappen wird“, sagt Meyer. Dazu sei die Zeit zu kurz. Aber kann ein IC im Zwei-Stunden-Takt den jetzt noch stündlich fahrenden ICE wirklich ersetzen? „Wir sind Realisten“, sagt Meyer, „das ist besser als nichts.“
Anmerkung: Dieser Beitrag ist am 17. Dezember 2016 in der Print-Ausgabe der Mitteldeutschen Zeitung erschienen und wurde für diese Fassung aktualisiert.