Was für ein Arbeitsplatz! Auf der einen Seite mehrere schneebedeckte Gipfel, zwischen denen zwei Gletscher hervortreten. Auf der anderen Seite der Kongsfjord, eingerahmt von einem Bergmassiv, das durch das Sonnenlicht noch majestätischer wirkt. Ansonsten: Stille! „Die Kulisse haut auch mich jedes Mal wieder um“, gesteht Julia Boike, als sie von ihrem Scooter steigt.
Doch Zeit für die landschaftlichen Schönheiten an der Westküste Spitzbergens hat die Arktisforscherin Anfang Mai nicht. Stattdessen holt sie einen Spaten aus ihrem Rucksack und gräbt auf einer Anhöhe ein rechteckiges Loch in den Schnee: einen Meter lang, 30 Zentimeter breit, 45 Zentimeter tief. Und das wird die 49-Jährige die nächsten Stunden beschäftigen.
Nördlichste Siedlung der Welt
Wir sind in Ny-Ålesund, der nördlichsten Siedlung der Welt, knapp unterhalb des 79. Breitengrades im Nordpolarmeer gelegen, gut 1 200 Kilometer vom Nordpol entfernt. Dort, wo bis Ende der 1960er Jahre Kohle gefördert wurde, ist seit den 1990er Jahren „das größte Labor der modernen Arktis-Forschung entstanden“, heißt es. Elf Länder haben am nördlichsten Ende Europas Stationen, darunter das Potsdamer Alfred-Wegener-Institut (AWI), für das Julia Boike und ihr Kollege Niko Bornemann arbeiten.
„Der Schnee spiegelt immer gut den letzten Winter wider“, erklärt die Forscherin, als sie ihr Loch ausgehoben hat. Von der Oberfläche bis zum Boden entdeckt sie vier Schichten Eis. „Das zeigt, dass der Schnee vier Mal geschmolzen ist, es hat also einen Temperatur-Anstieg gegeben, der hier oft auch mit Regen verbunden ist.“ Als es wieder kälter wurde, haben sich aus dem Wasser die Eis-Schichten gebildet. So etwas kommt auf Spitzbergen häufiger vor, denn durch warme Atlantik-Strömungen ist es hier – trotz der Lage hoch im Norden – milder als etwa in Sibirien. So liegen die Werte an diesem Tag im Mai knapp unter null Grad Celsius.
Mühsame Arbeit mit einfachen Mitteln
Doch Julia Boike will noch mehr wissen. Daher misst sie bei ihrem einwöchigen Aufenthalt auf Spitzbergen in unterschiedlichen Tiefen auch Temperatur, Feuchtigkeit und Dichte. Ein mühsames Unterfangen, denn die Forscherin liegt oder hockt lange Zeit am Rande des Loches und nutzt fast nur einfache Mittel: Notizblock, Waage, Zollstock, Kamera und eine Art Metall-Schublade, etwa so groß wie eine Schachtel Zigaretten, mit der sie Probe für Probe aus dem Schnee zieht. Aber wofür nur dieser große Aufwand? Macht das überhaupt Sinn?
„Leider wird der Faktor Schnee häufig noch unterschätzt.“
Julia Boike (Arktis-Forscherin)
Die Forscherin, die einige Jahre in Alaska und Kanada gelebt hat und regelmäßig für Langzeituntersuchungen auch in Sibirien ist, muss nicht lange überlegen. Für sie ist die Antwort klar: Ja! Ihr geht es nicht nur darum, den letzten Winter zu rekonstruieren. Ihr geht es darum, auf die Bedeutung des Schnees für das globale Klima hinzuweisen. „Leider wird der Faktor Schnee häufig noch unterschätzt.“ Dabei ist ein Grundprinzip recht einfach. Schnee reflektiert einen Großteil des Sonnenlichtes – und damit der Wärme. „Das ist der Kühlschrank-Effekt der Arktis.“ Wird die Schneedecke an den Polen dünner – und das wird seit Jahren beobachtet -, nimmt die Erde dort automatisch mehr Wärme auf. „Damit aber funktioniert der Austausch zwischen den kälteren Regionen im Norden und den wärmeren Regionen im Süden nicht mehr.“ Das Gleichgewicht des Klimas gerät also ins Wanken.
Nach vier Stunden Arbeit geht es zurück in die Station, auf der Julia Boike und Niko Bornemann untergebracht sind. Die Basis ist ein deutsch-französisches Projekt, das vom AWI und dem Institut Polair Française betrieben wird. Stationsleiterin Kathrin Lang, 33, hat sieben Jahre in den USA und Kanada gelebt, ihre Doktorarbeit in Chemie geschrieben und als Hundeschlittenführerin gearbeitet.
Smartphones bleiben aus
Heute organisiert sie die Aufenthalte der Forscher, steht im Kontakt mit den anderen Einrichtungen im Ort und macht Besucher mit den Besonderheiten vertraut – und davon gibt es einige. So darf Ny-Ålesund nur in bewaffneter Begleitung verlassen werden, um vor Eisbären geschützt zu sein. Zudem müssen alle Smartphones aus bleiben, damit die teils hochempfindlichen Messgeräte nicht gestört werden. Und gemessen wird viel – etwa im Atmosphären-Observatorium.
Dort lassen Kathrin Lang oder ein Kollege jeden Tag einen Helium-Ballon mit einer Radiosonde aufsteigen. Auf seinem Weg bis in 35 Kilometer Höhe werden Temperatur, Feuchtigkeit, Luftdruck und Windgeschwindigkeit gemessen. „Die Daten fließen auch in den Wetterbericht in Deutschland ein“, erklärt Kathrin Lang. Die Forscher interessieren jedoch vor allem die Langzeitbeobachtungen. Und da können sie mittlerweile auf Ergebnisse aus 25 Jahren zurückgreifen.
Heute bereiten Kathrin Lang und Logistikingenieur Simon Escalle einen etwas größeren Ballon vor. Einmal pro Woche wird neben der Radio- auch eine Ozonsonde angehängt, die Last für den Ballon ist also größer. „Die Sonden hängen an einer Winde 60 Meter unter der Hülle, damit der Ballon nicht die Messungen beeinflusst“, erklärt die Stationsleiterin. Das Gas gelangt über eine Pumpe in die Sonde und reagiert mit einer chemischen Lösung. Dabei entsteht Strom. Und aus der Stromstärke berechnen die Forscher den Ozongehalt. Die so erhobenen Daten geben Anlass zur Sorge. So sind in der Arktis die Winter in der Stratosphäre, also in der zweiten Schicht der Atmosphäre ab zehn Kilometern Höhe, im Gegensatz zur Schicht darunter zuletzt immer kälter geworden. Teils lagen die Werte bei minus 90 Grad Celsius. Das Problem: Die Abbauprodukte der Fluorchlorkohlenwasserstoffe (FCKW), die früher etwa in Sprühdosen verwendet wurden, greifen die Ozonschicht vor allem nach langer, extremer Kälte an. Und so verringert sich der Schutz vor gefährlicher UV-Strahlung.
Sechs Kristallformen
Julia Boike hat derweil auch am nächsten Tag wieder ein Loch geschaufelt. Sie möchte vermitteln, wie schwierig Schnee zu verstehen ist. Dazu legt sie eine Probe auf eine Plastikkarte. Auf der sind sechs typische Kristallformen und zwei Körnergrößen abgebildet. Durch eine Lupe erkennt auch das ungeübte Auge verschiedene Formen – und dazwischen sehr viel Luft. Dicke Schneeschichten wirken wie ein Isolator („Isomatten-Effekt“). „Entscheidend ist aber nicht nur die Dicke, sondern auch die Zusammensetzung einer Schicht“, erklärt die 49-Jährige. „Dabei haben kleine Details große Wirkung, weil sie bestimmen, wie viel Wärme durch den Schnee kommt.“ Davon hängt auch ab, wie schnell die Permafrostböden in der Arktis auftauen. Und um diese Prozesse verstehen zu können, betreibt Julia Boike so einen Aufwand. „Da reicht es nicht, sich nur einen Wert anzuschauen.“ Das gilt umso mehr, als dass Schnee schon auf kleinste Veränderungen empfindlich reagiert.
Empfindlich reagieren auch die Instrumente, die Niko Bornemann einige Meter weiter prüft. Gemessen werden Temperatur, Windgeschwindigkeit, CO2-Gehalt und der Wärme-Austausch zwischen Boden und Atmosphäre. Die Geräte werden regelmäßig gewartet und bei Bedarf repariert. „Das ist in Sibirien ganz anders“, sagt der 34-Jährige. „Dort müssen wir die Instrumente oft ein Jahr sich selbst überlassen und hoffen, dass wir alles so wiederfinden, wie wir es zurückgelassen haben.“ Doch wie seine Kollegin verlässt er sich auch auf Spitzbergen nicht nur auf die Geräte, sondern erfasst einiges von Hand. So misst er die Schneehöhe mit einer Lawinensonde nach, einem Metallstab, mit dem man sonst versucht, Verschüttete zu orten. Die Werte trägt auch er mit Bleistift in sein Notizbuch ein.
Nach gut einer Woche auf Spitzbergen geht es für Julia Boike und Niko Bornemann zurück nach Deutschland. Kurz vor dem Rückflug gibt es doch noch eine „tierische“ Begegnung. Es ist jedoch kein Eisbär, der die Forscher überrascht, sondern ein Polarfuchs, der ihnen eine halbe Stunde lang bei der Arbeit zuschaut. So nehmen beide nicht nur zahlreiche frische Daten mit, sondern auch eine neue Erfahrung. „Denn so etwas“, räumt Julia Boike ein, „habe ich auch noch nicht erlebt.“