Ein Trampelpfad, eine Holztür und dann ein Gewirr aus Gängen. Es ist dunkel im Bunker. Rolf-Dieter Werner geht mit einer Taschenlampe voran. Links, rechts, links. Dann erreicht der Hobby-Historiker einen langgestreckten Tunnel. Dessen Untergrund ist mit einer weißen Krusten bedeckt. „Da sind die ersten Spitzen schon“, sagt Werner. Er zeigt nach oben. Feinste Tropfsteine schälen sich dort aus dem rauen Grau der Bunkerwände. „Salzablagerungen“, sagt Werner nur. Er geht um die Ecke und da hängt er dann, dieser große, schwefelgelbe Block. Ein Gebilde aus zig Tropfsteinen, vielleicht fünfzig oder gar mehr. Jahrzehnte haben die filigranen Stachel gebraucht, um diese Größe zu erreichen. Nur wenige Menschen haben sie bisher gesehen. „Der Anblick ist immer wieder phänomenal“, meint Werner. „Ein Naturschauspiel.“
Die Tropfsteine aber, so beeindruckend sie auch sind, stehen für eine grausame Geschichte. Sie entstanden, weil an dem Ort, an dem sie wachsen, einst die Nationalsozialisten ein Arbeitslager errichteten. Wo heute die Stachel im Taschenlampenlicht glitzern, wurden vor 70 Jahren Menschen bis zur Erschöpfung geschunden. Viele starben. Diese Vergangenheit des Ortes kennt kaum jemand. Das zu ändern, ist die späte Lebensaufgabe von Werner.
Das 360-Grad-Video aus dem Bunker in Wansleben
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150 Tote in einem Jahr
Es ist ein warmer Sommertag als der 71-jährige Chemiker über das Gelände führt, auf dem der Bunker steht. Es liegt am Rande von Wansleben am See, einem kleinen Ort in Mansfeld-Südharz, 15 Kilometer westlich von Halle. Ein Durchfahrts-Dorf, zerschnitten von der B80, dessen namensgebenden See es längst nicht mehr gibt. Hier errichteten die Nationalsozialisten ab März 1944 eine von zig Außenstellen des Konzentrationslagers Buchenwald. Die Wahl von Wansleben hatte dabei einen einfachen Grund. Er liegt rund 400 Meter unter dem Dorf. Dort verlaufen die beiden Schächte „Georgi“ und „Neumannsfeld“. „Die wurden Ende des 19. Jahrhunderts angelegt, um Kali-Salz abzubauen“, erklärt Werner. 1924 waren die Vorräte erschöpft.
Nach der Stilllegung kamen die Nazis. „Die Deutschen hatten keine Lufthoheit mehr und suchten sichere Produktionsstätten für ihre Rüstungsindustrie.“ Die fanden sie auch in den beiden Kali-Schächten. Beim Abbau des Salzes waren in der Tiefe riesige Hallen entstanden, in die nun die Produktion ausgelagert wurde. Pro Schacht baute man ein Lager. Die Kommandantur entstand beim Zugang zu „Neumannsfeld“. Deswegen wurde dort auch der Luftschutzbunker errichtet. „Das war das erste, was die Häftlinge bauen mussten“, sagt Werner. Und weil die Nazis Angst hatten, dass der Bunker von Fliegern erkannt und das Areal attackiert wird, ließen sie die Inhaftierten noch eine Kali-Halde über dem Gebäude errichten. Über die Jahre sickerte mit Salz vermischtes Regenwasser in den Bunker. So entstanden auch die Tropfsteine.
Nachdem Bunker und Halde fertig waren, mussten die Häftlinge zumeist unter Tage arbeiten. Bei bis zu 55 Grad Celsius produzierten sie Rüstungsgüter wie Granatenzünder. Bis zu 2 500 Insassen hatte Wansleben. Pro Monate, sagt Werner, habe es zehn bis 15 „Rückführungen“ nach Buchenwald gegeben. „Das waren Leute, die nicht mehr arbeitsfähig oder schon tot waren.“ Das Lager in Wansleben sei zwar nicht wie Buchenwald zur Vernichtung gedacht. Trotzdem, so schätzt Werner, hat es rund 150 Menschen das Leben gekostet.
Dass solche Zahlen und die Geschichte des Lagers überhaupt bekannt sind, ist keine Selbstverständlichkeit. Allein in Sachsen-Anhalt gab es mehr als 20 Buchenwald-Ableger. Oft verschwand die Erinnerung an sie mit dem Ende des Dritten Reiches. In Halle etwa arbeiteten hunderte KZ-Häftlinge im Siebel-Flugzeugwerk. Heute ist dieser Teil Stadtgeschichte fast vergessen. Und auch vom Lager in Wansleben wäre längst nichts mehr übrig, wenn es Andreas Tautrim nicht gegeben hätte. Dem Bauunternehmer gehört das Grundstück, das direkt an das ehemalige Lager grenzt. Als 2006 Bagger anrückten, um das im Landesbesitz befindliche Areal von den historischen Gebäuden zu befreien, intervenierte er. Tautrim telefonierte sich bis zum damaligen Ministerpräsidenten Wolfgang Böhmer (CDU) durch. Der stoppte schließlich den Abriss. Mit ein paar Mitstreitern gründete der Bauunternehmer damals den Verein, der seitdem eine Gedenkstätte betreibt und das Erbe des Ortes aufarbeitet.
Ein Schatz in der Tiefe
Auch Rolf-Dieter Werner ist Mitglied des Vereins. Beim Gang über das Gelände zeigt er die beiden Backsteingebäude, die sie erhalten haben. Dort finden heute Veranstaltungen statt. Außerdem gibt es eine kleine Ausstellung, die die Geschichte des Lagers erzählt. Die Aufarbeitung, sagt Werner, sei nicht einfach gewesen. Er habe mit ein paar ehemaligen Insassen sprechen können. Vor Ort wurde das Thema aber lange tabuisiert. „Bis in die 70er Jahre sprach niemand über das Lager.“ Noch heute lerne er Menschen kennen, die mit ihm das erste Mal über ihre Erinnerungen reden. „Die sind dann zumeist auch erleichtert, dass sie das getan haben.“
Eine Geschichte taucht in den Erzählungen dabei immer wieder auf. Vielleicht, weil ihr etwas Geheimnisvolles anhaftet. „In den Schächten vermuten manche noch heute große Schätze“, erzählt Werner. Sogar das Bernsteinzimmer soll unten liegen. „Richtig ist, dass die Nazis Kisten mit Wertsachen unter Tage gebracht haben.“ Tausende Bücher und Gemälde der Leopoldina, der ältesten Wissenschaftsakademie weltweit. „Aber das wurde spätestens von den Amerikaner alles wieder rausgeholt“, sagt Werner. Ob noch etwas unten ist, da ist sich der 71-Jährige unschlüssig: „Vielleicht, aber das werden wir wohl nie herausfinden.“ In den 60er Jahren wurden nämlich beide Zugänge zugeschüttet und versiegelt. Sie wieder aufzumachen, wäre zwar möglich, aber viel zu teuer.
Für den Gedenkstätten-Verein stehen leichter umzusetzende Projekte im Vordergrund. „Als nächstes wollen wir den Bunker für Besucher zugänglich machen“, sagt Werner. Dann kann jeder die Tropfsteine bewundern. „Viel wichtiger aber als das Naturschauspiel ist“, meint Werner, „dass die Menschen auch die Geschichte erfahren, die hinter den Tropfsteinen steckt.