Alte Kessel, neue Ideen

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Mit einem lauten Plopp fliegt der Bügelverschluss der Flasche auf. Wenige Sekunden später füllt Norbert Gehring bereits die bauchigen Gläser mit dem goldgelben Getränk. „Das ist unser helles Bockbier“, sagt der Eigentümer der Brauerei in Wippra, einer der ältesten in Sachsen-Anhalt. Er steht zur Verkostung in der Bierhalle, einem urig eingerichteten Raum, der für solche Zwecke geschaffen wurde. An den Wänden reihen sich Bierflaschen aus aller Welt. Von oben verbreitet ein Heizstrahler wohlige Wärme. „Der Bock ist etwas stärker und malziger“, sagt Gehring. „Genau das Richtige für die kalte Jahreszeit.“

Die 360-Grad-Videoreportage aus der Brauerei in Wippra

Wie funktionieren 360-Grad-Videos? Antworten gibt es auf unserer Extraseite! Wer das Rund-Um-Video in Vollbildmodus sehen will, der kann das unter diesem Link tun. Und wer es mit einer VR-Brille ansehen möchte, sollte den Youtube-Link benutzen.

Wer jetzt gleich zum ersten Schluck ansetzen will, wird vom Brauereibesitzer erst einmal zurückgepfiffen. Vor dem Trinken kommt das Schauen: die Farbe, der Schaum, wie das Bier perlt. Anschließend das Riechen: Ein kräftiges Malzaroma und eine gewisse Süße. Dann, endlich, das Trinken: „Man schmeckt Karamell und Marzipan“, sagt Gehring nach den ersten Zügen. Recht hat er. Doch der 55-Jährige hadert auch: „Das Bier könnte ein bisschen wärmer sein, dann wäre es noch besser.“

Erster Bier-Sommelier im Land

Gehring, das merkt man schnell, ist Perfektionist, wenn es um Bier geht. Für ihn ist es nicht nur das Produkt, das in der Brauerei, die er und sein Bruder Dirk 2003 erworben haben, hergestellt wird. Bier ist für Gehring zum Lebensinhalt geworden. Und zu einer Lebensaufgabe. „Das Thema Bier ist riesengroß, wird aber auch massiv unterschätzt“, sagt er. In der Gastronomie etwa habe man das Potenzial noch nicht einmal in Ansätzen erkannt. Gehring will das ändern und dazu beitragen, die Bierkultur in Deutschland zu revolutionieren.

Ein großes Ziel für einen, dessen Bierwelt sich lange Zeit auf das Getränkeregal im Supermarkt beschränkte. Gehring ist eigentlich Mathe- und Chemielehrer, über Umwege kam er nach Mansfeld-Südharz und entdeckte hier die Brauerei in Wippra. „Deren Betreiber suchte 2002 einen Nachfolger“, erzählt Gehring. Er uns sein Bruder Dirk, Klempner von Beruf, waren interessiert. Sie zögerten aber. „Wir mussten erst ein Konzept erarbeiten, von dem wir auch überzeugt waren.“

Neues Design: Ab Dezember 2016 lösen Fahnen um den Hals die Etiketten auf den Wippraer-Flaschen ab. Nicht nur ein Marketing-Coup. Der eingesetzte Etiketten-Kleber verunreinigte immer wieder die Flaschen. (Foto: Andreas Stedtler)
Neues Design: Ab Dezember 2016 lösen Fahnen um den Hals die Etiketten auf den Wippraer-Flaschen ab. Nicht nur ein Marketing-Coup. Der eingesetzte Etiketten-Kleber verunreinigte immer wieder die
Flaschen. (Foto: Andreas Stedtler)

Wippra ist damals kein einfaches Brau-Pflaster. Ein Ort mit einer Biertradition, die bis ins 15. Jahrhundert zurückreicht. Und mit einem Ruf, der weithin bekannt ist: „Wippraer Bier, das lob ich mir“, hieß es zu DDR-Zeiten. Ein Slogan, der bis heute erhalten geblieben ist. Nach der Wende schrumpft die Produktion allerdings auf das Niveau einer Minibrauerei. Eigentümerwechsel gab es viele, Konzepte hingegen kaum. Dann kamen die Gehrings. „Wir haben uns fast 14 Monate mit Technik, Kundenanalyse und Geschichte befasst“, erzählt Norbert Gehring. Erst dann waren sie vom Projekt Brauerei überzeugt und unterschrieben die Verträge. „Bis heute haben wir es nicht bereut.“

„Anders als etwa ein Schwarzbier ist ein Porter blickdicht.“
Norbert Gehring

Zurück in der Bierhalle: Der nächste Bügelverschluss schnipst ploppend auf. „Das ist ein echter deutscher Porter, nach alter Rezeptur“, sagt Gehring und hält das tiefschwarze Bier gegen das Licht. „Anders als etwa ein Schwarzbier ist ein Porter blickdicht“, erklärt er. Und wahrlich: Kein Schimmer durchdringt das Glas. Riechen: Bohnenkaffee und eine Nuance Bitterschokolade. Dann, endlich, trinken: „Auf der Zunge macht sich zuerst die Schokoladennote bemerkbar“, meint Gehring. Er lässt den dunklen Trunk in seinem Mund zirkulieren. „Herrenschokolade mit 70 bis 80 Prozent Kakao.“ Er schaut auf: „Und jetzt stellen Sie sich dazu noch ein Vanilleeis mit Sahne vor – perfekt.“

Gehring ist nicht nur Brauereieigentümer, sondern auch Bier-Sommelier. Der erste in Sachsen-Anhalt. Eigentlich ist das eine Bezeichnung für Weinkenner, die Gäste der gehobenen Gastronomie beraten. Seit einigen Jahren gibt es aber auch eine Ausbildung zum Bierspezialisten. Gehring hat sie gemacht und dabei auch die Vielfalt des, wie er sagt, „Kulturgutes“ kennengelernt. „Es gibt weltweit rund 230 verschiedene Hopfensorten“, rechnet er vor. „Hinzu kommen etwa 20 Malzsorten und noch einmal 80 unterschiedliche Hefen.“ Kein Brauerleben würde reichen, die möglichen Kombinationen durchzuprobieren. Doch die Gehrings wollen wenigstens so viele wie möglich schaffen.

Hasseröder braut 1000 Mal mehr

Allerdings ist die Biervielfalt in Deutschland noch kaum gefragt. „Wir sind ein Markentrinkerland“, sagt Gehring. Die meisten Leute hätten sich irgendwann auf eine Sorte festgelegt und würde nur noch dem Etikett vertrauen. „Ein neuer Geschmack, mal etwas ausprobieren – das ist eher unerwünscht.“ Das liege aber nur zum Teil an den Konsumenten. „Im Handel und der Gastronomie wird kaum mal etwas gewagt“, sagt Gehring. In Deutschland würden zwar 6 000 unterschiedliche Biere gebraut, allerdings gebe es in kaum einem Laden eine Bierkarte. „Andere Länder wie Belgien, Österreich oder auch die USA sind da schon weiter“, sagt Gehring.

„Vor allem die jungen Leute entdecken das Experimentieren wieder für sich.“

Norbert Gehring

In Wippra wollen sie die deutsche Biervielfalt zumindest etwas voranbringen. Produkt dieser Bemühungen sind Kreationen, mit schönen Namen wie Doldensud, Opal oder Wipprator. Gebraut werden sie in den Braukesseln, die im Sudhaus seit seiner Erbauung 1905 stehen. „Vor allem die jungen Leute entdecken das Experimentieren wieder für sich“, sagt Gehring. Das mache Mut, wenngleich die Kräfteverhältnisse einschüchternd sind. In Wippra werden pro Jahr 250 000 Liter Bier gebraut. Bei Hasseröder, Sachsen-Anhalts größtem Bierproduzenten, ist der Ausstoß 1 000 Mal höher.

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Beim Großbrauer wird es dafür aber wohl nie jene Spezialitäten geben, die im Wippraer Eiskeller zu finden sind. Der Raum wurde vor 500 Jahren in das Schiefergestein des Brauberges geschlagen und ist mit dem Sudhaus verbunden. Seit jeher lagert hier das Wippraer Bier. Zwei Fässer aus Holz passen nicht ins Bild: „Die habe ich von Winzern aus Freyburg geholt, da war vorher Rotburgunder drin“, sagt Gehring. Nun reift in ihnen Bockbier. Sechs Monaten dauert es, dann ist daraus sogenannter Barley-Wein geworden.

Ein solcher wird zuletzt auch in der Bierhalle aufgeploppt. Rötlich-braun glänzt er im Glas. Die Schaumkrone ist stark. Riechen: Intensiv und sehr fruchtig. Dann, endlich, trinken: Süß und bitter mischen sich, die Johannisbeer-Note sticht besonders hervor. Ein Geschmackserlebnis. „Es wäre doch schade, wenn solche Braustil verloren gehen würden“, sagt Norbert Gehring. Recht hat er.