Dem Tod so nah

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Der Geruch breitet sich im ganzen Haus aus. Vom Kellergeschoss steigt er in die oberen Etagen des Backsteinbaus. Wie es riecht, ist schwer zu beschrieben: Muffig, alt und irgendwie auch süßlich. Es ist ein Geruch, der ein ungutes Gefühl erzeugt, der in der Nase verfängt und so schnell nicht verschwindet. Es ist der Geruch einer Leiche, einer verwesten Leiche. Und wahrscheinlich nirgendwo im Land riecht man ihn so oft, wie in der Rechtsmedizin in Halle.

360-Grad-Video: Die Rechtsmedizin in Halle

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Verantwortlich für den Geruch – oder besser gesagt: Verantwortlich dafür, dass er sich im Haus verteilt, ist Heiko Strauß. Der hoch gewachsene, schlaksige Mann ist Sektionsassistent in der Rechtsmedizin. Er hilft also bei Obduktionen von Leichen. Gerade steht er vor der Kühlkammer im Keller des Instituts. Ein Schrank, tiefer als breit, der mit neun Schubladen bestückt ist. In ihnen liegen die Toten, auf fünf Grad heruntergekühlt und stocksteif.

Strauß hat soeben eine Frau auf den Leichenwagen gelegt. Dabei entwich auch der Verwesungsgeruch. „Der kommt von einer anderen Verstorbenen, die bereits etwas länger lag, bevor sie gefunden wurde“, sagt er. Der Sektionsassistent ist schon seit mehreren Jahren dabei. Der Geruch? Den bemerke er kaum noch.

Todesursache unklar? Herzinfarkt!

Strauß und seine Leiche passen gerade so in den engen Fahrstuhl, der sie eine Etage nach oben befördert. Die Flügeltür öffnet sich. Dahinter liegt der wichtigste Raum im Haus: der Obduktionssaal. Die Luft riecht hier fast schon zu rein, was vielleicht auch daran liegt, dass der Eindruck des Kellers noch nachhallt. Im Licht der Röhrenlampen glänzen Sezierbesteck und die drei blanken Edelstahltische. Akkurat aufgereiht liegen da Skalpelle neben Knochensäge und Hammer. Es ist das Reich von Professor Rüdiger Lessig, dem obersten Rechtsmediziner im Land.

Der 58-Jährige, der seit 2010 Chef des Instituts in Halle ist, wartet bereits auf die Lieferung von Heiko Strauß. Die Frau, die der Assistent bringt, wurde in ihrer Wohnung gefunden. Woran sie starb, ist unbekannt. Genau deswegen ist sie hier im Obduktionssaal gelandet. „Ein typischer Fall“, sagt Lessig. Für ihn ist der Anblick eines toten Menschen freilich nichts besonderes mehr. Tausende hat er in seiner Berufslaufbahn bereits vor sich gehabt. Schockieren könne ihn da eigentlich nichts mehr. Psychisch belastend seien nur wenige Leichen, etwa die von Kindern. „Da ist es schon wichtig, dass man privat einen stabilen Rückhalt hat.“

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Der Keller der Rechtsmedizin in Halle: hier werden die Leichen in einem Kühlraum gelagert, bevor sie per Fahrstuhl eine Etage höher, in den Obduktionssaaal kommen. (Foto: Andreas Stedtler)

In Sachsen-Anhalt werden pro Jahr zwischen 700 und 800 Leichen von Lessig und seinem Team untersucht. Nicht nur in Halle, sondern auch in der Instituts-Außenstelle in Magdeburg. „Das ist eindeutig zu wenig“, sagt Lessig. Für ihn ein deutschlandweites Problem. „Nimmt man alle Bundesländer zusammen, dann werden nur rund drei Prozent der Verstorbenen obduziert – das ist unterirdisch“, sagt der Pathologe. In Skandinavien liege die Quote zum Beispiel bei 30 Prozent.

Ob zu Skalpell, Hammer und Säge gegriffen wird, ist vor allem Sache der Ermittlungsbehörde und des Notarztes, der die Leiche vor Ort das erste Mal begutachtet. Und der ist in den wenigsten Fälle ein Fachmann. „Wenn der Arzt nicht weiß, woran der Mensch gestorben ist, dann heißt es etwa bei alten Leuten oft: Herzinfarkt – was soll es auch sonst gewesen sein“, sagt Lessig.

Die Folgen dieser leichtfertigen Praxis sind zum Teil verheerend. „Die Statistik zu den Todesursachen wird so natürlich total verzerrt“, erklärt der Professor. Hinzu kommt, dass Erkenntnisse einer Obduktion fehlen: „Wenn ein Verstorbener eine Krankheit hatte, die vererbbar sein könnte, dann wäre das sicher für die Angehörigen eine wichtige Information.“ Und im schlimmsten Fall bleiben sogar Verbrechen unentdeckt. „Dass das auf Grund fehlender Obduktionen passiert, ist sicher“, meint Lessig. Unter Rechtsmedizinern kursiert deswegen schon lange der Spruch: „Wenn auf jedem Grab eines unentdeckt Ermordeten eine Kerze stünde, wären Deutschlands Friedhöfe hell erleuchtet.“

Wie real dieser Ausspruch ist, zeigt ein prominenter Fall aus Sachsen-Anhalt. Im Februar 2014 wurde in Halle eine Studentin leblos am Saaleufer gefunden. Zunächst ordneten der Arzt und die Polizei keine Obduktion an. Als Todesursache wurde „Ertrinken“ festgehalten. Dass es sich um Mord handelt, stellten erst Rüdiger Lessig und sein Team fest.

„Es gibt Druck von außen“

Die Rechtsmediziner arbeiten dabei immer in dem Bewusstsein, dass ihre Befunde wichtige Hinweise vor Gericht sind. Als besonders objektiv gelten dabei DNA-Analysen. Auch die werden in Halle durchgeführt. Leiterin des Bereichs ist Uta-Dorothee Immel. Die Labore, in denen sie und ihr Team Proben nehmen und untersuchen, liegen eine Etage über dem Obduktionssaal. „Die Methoden sind mittlerweile so fein, dass uns oft schon eine Körperzelle reicht“, sagt Immel. Dass ihre Arbeit dabei helfen kann, Verbrechen zu lösen, ist für sie keine Belastung. „Es gibt schon Druck von außen“, sagt die Molekulargenetikerin. Darauf müsse man sich aber einstellen und immer so präzise wie möglich arbeiten. So wie im Fall der im Mai in Dessau getöteten Chinesin Yangjie Li. Da war es eine durch die Mediziner in Halle gefundene und von Immels Team analysierte DNA-Spur, die schließlich zum derzeit Tatverdächtigen führte.

Zurück im Obduktionssaal, wo die Frau aus der Wohnung noch auf dem Leichenwagen liegt. Gerade kam ein Anruf von der Polizei: Ein Autounfall bei Wittenberg. Ein Mann kam dabei zu Tode. Seine Leiche wird nun zur Untersuchung nach Halle gebracht. Routine für Rüdiger Lessig und sein Team. Als Beobachter beginnt man allerdings darüber nachzudenken, wie der Mann heute morgen in seinen Wagen stieg und nun, am Nachmittag in einer der Kühlkammern landet. Es ist der Moment, indem einem sehr eindrücklich bewusst wird, wie nah die Rechtsmediziner dem Tod jeden Tag sind.