In der XXL-Werkstatt

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Ein Stechen zuckt durch den Kopf, dann kommt der Schmerz. Kein schlimmer Schmerz, aber einer, über den man sich ärgert. Denn wenige Minuten bevor wir in der Werkstatt des Bahnunternehmens Abellio unter den Zug klettern, warnt Matthias Wallenstein noch: „Da unten gibt es viele spitzkantige Stellen, da muss man vorsichtig sein.“ Doch der Warnung zum Trotz kommen sich nach nur wenigen Metern bereits Zug und Kopf zu nah. Zum Glück hatte Wallenstein vor dem Gang in die Grube noch eine Kopfbedeckung mit Plastik-Einsätzen ausgeteilt. Sonst wäre die Beule wohl noch größer geworden.

Das 360-Grad-Video aus der Zugwerkstatt

Wie funktionieren 360-Grad-Videos? Antworten gibt es auf unserer Extraseite! Wer das Rund-Um-Video in Vollbildmodus sehen will, der kann das unter diesem Link tun. Und wer es mit einer VR-Brille ansehen möchte, sollte den Youtube-Link benutzen.

Es ist aber auch eine motorische Höchstanforderung, sich unter das Schienenfahrzeug zu schlängeln – zumindest für den ungeübten Besucher. Wallenstein hingegen schwingt sich mit artistischer Routine in den schmalen Gang, der sich unter der Eisenbahn erstreckt. Die Grube erinnert an den Stollen eines Bergwerks. Eineinhalb Meter breit, keine zwei Meter hoch und rundherum nur Beton und viel Metall. Bergwerks-Stollen. Der Arbeitsgraben ähnelt einem Bergwerks-Stollen. Für Wallenstein eine gewohnte Arbeitsumgebung. Der 45-Jährige ist Schichtleiter in der Werkstatt in Sangerhausen (Mansfeld-Südharz). Der Job bringe zwar viel Schreibtischarbeit mit sich. „Aber die Hälfte der Zeit versuche ich schon, an und auch unter den Zügen zu arbeiten“, sagt er.

Reparaturbetrieb der Superlative

Wallensteins Reich, die Werkstatt, ist eine Reparaturbetrieb der Superlative. In der 130 Meter langen Halle sieht es so aus wie in einer Kfz-Werkstatt – nur eben eine Nummer größer. Frostschutzmittel wird hier in 1 000-Liter-Kanistern gelagert und die Schraubenschlüssel sind für handtellergroße Muttern gemacht. Eine Säule der Hubanlage kann 20 Tonnen heben. Und von diesen Säulen gibt es hier 16 Stück. Mit ihrer geballten Kraft könnte man insgesamt über 200 Mittelklasse-Wagen stemmen.

Zurück unter den Zug, wo sich der Kopfschmerz langsam verflüchtigt. Wir passieren die erste Achse. Vorwärts geht es in dem Graben nur in Neandertaler-Haltung – immer etwas gebückt. Alles hier ist mit einer öligen, schwarzen Schicht überzogen. Nur die Räder glänzen metallisch hervor. Hinter der zweiten Achse bleiben wir stehen. „Hier sieht man die Radscheiben, dort die Bremseinheit, da drunter ist der Fahrmotor und weiter oben liegen die Zuleitungen“, erklärt Matthias Wallenstein. Unter Zügen kennt er sich aus, hunderte Stunden hat er bereits unter ihnen verbracht. „Auch bei Routinekontrollen wird ein Zug von allen Seiten untersucht.“

„Bisher gibt es mit den Zügen nur wenige Probleme.“
Nicky Hippe

Während er erzählt, wirkt der Schichtleiter ganz ruhig, fast schon entspannt. Dabei kann einem im Reparaturgraben schon mulmig zumute werden, mit so viel Metall über dem schmerzenden Kopf. Immerhin ist der Schienenkoloss eine Etage weiter oben 90 Meter lang und wiegt 109 Tonnen. „Das sind Züge vom Typ Talent 2“, erklärt Wallenstein. Im Nahverkehr gehören die vom kanadischen Eisenbahnbauer Bombardier hergestellten Wagen mittlerweile zur Standardausrüstung. Auch Abellio hat 35 Exemplare davon im Einsatz. Und die werden alle in Sangerhausen instand gehalten.

„Bisher gibt es mit den Zügen nur wenige Probleme“, meint Nicky Hippe. Er ist der Werkstattleiter, Wallensteins Chef . Hippe steht in der Halle zwischen den beiden Reparaturgleisen. Auf einem davon wird gerade ein neuer Zug in Schrittgeschwindigkeit reingefahren. Ein lautes Quietschen begleitet den Vorgang. Aus Arbeitsschutzgründen gibt es in der Werkstatt keine Stromleitungen. Deswegen muss der große Zug von einem Mini-Triebwagen gezogen werden. Der Anblick erinnert ein bisschen an ein Schleppboot, das einen riesigen Tanker in den Hafen zieht

Ölwechsel und Bremsbeläge tauschen

  • 130 Meter lang und Platz für zwei Züge: Das ist die Werkstatt von Abellio in Sangerhausen. Sie ist eine der modernsten Reparaturbetriebe in Mitteldeutschland. Erst 2015 wurde sie gebaut. (Foto: Andreas Stedtler)

„Derzeit machen wir vor allem die Standard-Wartung, also Ölwechsel und den Tausch von Bremsbelägen“, sagt Werkstattleiter Hippe. Hinzu kommen noch einige Wildschäden. Für die Jahreszeit sei das typisch. „Da muss dann ab und an mal eine Frontpartie ausgetauscht werden.“

Dass es bisher nur wenige größere Probleme mit den Zügen gibt, liegt auch daran, dass sie noch nicht allzu lange im Einsatz sind. Erst im Dezember 2015 startete die Abellio-Flotte in den regelmäßigen Betrieb. Damals nämlich übernahmen die Niederländer das Saale-Thüringen-Südharz-Netz von DB Regio. Es umfasst zehn Linien, 120 Stationen und 9,2 Millionen Zugkilometer pro Jahr. Für die Tochter der Deutschen Bahn war der Verlust dieser Strecken ein harter Schlag. Allein in Sachsen-Anhalt schrumpfte der Marktanteil um 14 Prozent.

„Solche Arbeitsbedingungen findet man nur selten in der Region.“
Nicky Hippe

Für Abellio bedeutete die Übernahme allerdings, in Mitteldeutschland eigene Strukturen aufbauen zu müssen. Die Bahnen des Unternehmens waren bis dahin nur in Nordrhein-Westfalen unterwegs. Für das Netz in Sachsen-Anhalt, Thüringen und Sachsen musste Abellio nun von Zügen bis Ticketautomaten alles neu anschaffen. Und sie brauchten auch eine eigene Werkstatt – ganz zur Freude von deren Leiter Nicky Hippe. „Die Ausstattung hier in Sangerhausen ist natürlich sehr modern“, sagt er. „Solche Arbeitsbedingungen findet man nur selten in der Region.“

Abellio übernimmt weiteres Netz

24 Stunden am Tag ist die Werkstatt in Betrieb. 30 Elektriker, Mechatroniker und Schlosser arbeiten hier in drei Schichten. „Wir kommen von ganz unterschiedlichen Bahn-Unternehmen“, sagt Hippe. Er selber hat zuvor in Erfurt Züge repariert. Matthias Wallenstein arbeitete bei einer Privatbahn in Nordhausen. Mit ihm geht es nun nach oben. Wir krauchen aus dem engen Gang und steigen dann über eine Gittertreppe auf das Dach. Eingeklappt liegen da die Stromabnehmer, die den Zug mit der Oberleitung verbinden. Links und rechts davon sind viele Kästen aufgebaut. „Die Talent 2-Züge sind Niederflurwagen“, erklärt Wallenstein. Bei denen sein nur wenig Platz im unteren Bereich. „Deswegen müssen Klimaanlage, Batterien oder auch die Transformatoren nach oben ausgelagert werden.“

Vom Dach des Zugs hat man auch einen guten Blick über das gemächliche Treiben in der Halle. „In der Nacht ist hier deutlich mehr los“, sagt Wallenstein. Dann sei die Hauptreparaturzeit, weil die Züge ja nicht fahren. Und künftig wird der Arbeitstakt wohl noch höher. Ab Ende 2018 ist Abellio auch auf dem Dieselnetz in Sachsen-Anhalt unterwegs. Dann befahren die Niederländer fast die Hälfte der Strecken im Bundesland. Langweilig wird es den Schraubern in der Werkstatt in Sangerhausen also sicherlich auch in den nächsten Jahren nicht werden.