Die Weltrekord-Schrauber

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Mit dem Finger tippt sich Wilfried Niebel mehrmals an den Kopf. „Als wir Bekannten von unserer Idee erzählt haben“, sagt der 74-Jährige, „da meinten viele einfach nur: Ihr seid doch verrückt.“ In der Szene habe es geheißen: Die Wahnsinnigen aus Zilly wieder. Und: Das schaffen die nie. Doch Wilfried Niebel, sein Sohn Tilo und ein paar befreundete Schrauber ließen sich nicht beirren. Die Idee war  einmal in der Welt und die Crew der Harzer Bikeschmiede wollte sie auch verwirklichen: Das schwerste  Motorrad der Welt bauen. Den stahlgewordene Traum eines jeden Bikers.

Das 360-Grad-Video aus der Bikeschmiede

Wie funktionieren 360-Grad-Videos? Antworten gibt es auf unserer Extraseite! Wer das Rund-Um-Video in Vollbildmodus sehen will, der kann das unter diesem Link tun. Und wer es mit einer VR-Brille ansehen möchte, sollte den Youtube-Link benutzen.

Wilfried und Tilo Niebel, das muss man dazu sagen, sind Bastler. „Do it yourself“-Typen, die das Selbermachen schon kultivierten, als es noch kein Trend war. Echte Tüftler, die lieber etwas eigenes entwickeln, als es zu kaufen. „Schon als die Kinder noch klein waren, haben wir oft zusammen Spielzeug gebaut“, sagt Vater Wilfried. Die Werke von damals gebe es noch immer. „Und die funktionieren auch noch.“

4,8 Tonnen und 1 000 PS

Mit dem Älterwerden änderten sich auch das Spielzeug. „Als ich 12 Jahre alt war, bekam ich eine Simson SR2 geschenkt“, erzählt Tilo Niebel. Sein erstes Motorrad und erst der Anfang.  Es folgten: AWO, EMW, MZ und alles andere, was es an Zweiradtechnik in der DDR gab. „Das Problem war nur, dass man damals schwer an Teile kam“, sagt Wilfried Niebel. Das änderte sich mit dem Fall der Mauer. „Die alten Maschinen wurden nach der Wende wie Schrott behandelt“, sagt Tilo Niebel. „Vieles wurde einfach weggeschmissen und  durch vermeintlich Besseres ersetzt.“

Sie fingen an, die alten Motorräder zu sammeln und wieder aufzubauen. Ihr Zweirad-Fuhrpark wuchs und ein neues Projekt wurde notwendig: Platz schaffen in Zilly. Der kleine Ort liegt im Landkreis Harz, gut zehn Kilometer von der niedersächsischen Grenze entfernt. „Nach der Wende gab es hier ein paar heruntergekommene Gebäude, die wir begannen wieder aufzubauen“, erzählt Wilfried Niebel. Schuppen, Häuser, eine Scheune – nach und nach richteten sie alles wieder her und eigentlich sind sie noch immer dabei.

Was sie dafür brauchten, haben sie nicht gekauft, sonder sich zusammengesucht. Wilfried und Tilo Niebel sind nämlich nicht nur Schrauber, sondern auch Schrauber mit einer Mission. Sie wollen der Überflussgesellschaft etwas entgegen setzen, zeigen, dass alte Technik keine schlechtere Technik ist. „Vieles wird heute weggeworfen, wenn es nicht mehr funktioniert oder abgerissen, wenn es kaputt ist“, sagt Wilfried Niebel. „Dabei kann man es einfach reparieren oder wieder aufbauen.“

Mit dem Anhänger fuhren sie in der Region umher und suchten in Abrisshäuser, alte Industrieruinen und stillgelegte Kasernen nach Material. Stück für Stück kamen sie so in Zilly voran: Etwa mit der Ausstellungsscheune, einem dreietagigen Fachwerkbau. „Hier ist ein halber Wald an Balken verbaut“, sagt Wilfried Niebel. Allerdings sei nur Holz verwendet worden, das sie auf ihren Touren durch die Region gefunden haben.

Die Bikeschmiede im Harz-Ort Zilly. (Foto: Andreas Stedtler)
Die Bikeschmiede im Harz-Ort Zilly. (Foto: Andreas Stedtler)

Die Scheune beherbergt heute einen Großteil der Motorradsammlung und ist das Herzstück des vor einem Jahr eröffneten Technikmuseums. Wie viele Motorräder es sind? „Keine Ahnung“, sagt Tilo Niebel. „Aber es werden stetig mehr.“ Neben den Zweirädern gibt es hier auch technische Geräte der vergangenen 150 Jahre zu sehen sowie ausgewählte Autos.  In einem Schuppen nebenan steht die älteste noch existierende Staatskarosse der DDR. Ein ZIS 110, gebaut in den Stalinwerken Moskau. „Otto Grotewohl, der erste DDR-Ministerpräsident, hat sich darin chauffieren lassen“, erzähl Tilo Niebel.

Das bekannteste Exponat allerdings wartet gleich hinter dem Scheuneneingang: Das Panzerbike. Ein Haufen Stahl geformt zu einem Zweirad mit Beiwagen: 4,8 Tonnen schwer, 1 000 PS und es fährt sogar. Das schwerste Motorrad der Welt und das Produkt jener verrückten Idee, die die Bikeschmiede-Crew 2003 hatte. „Damals wurde die Kaserne der Roten Armee in Halberstadt abgerissen und wir suchten dort nach Material“, erzählt Wilfried Niebel. Im Keller fanden sie auch das Schnittmodell eines Motors. Der gehörte zu einem  T55-Panzer. „Wir fragten, ob wir den mitnehmen dürfen“, erzählt Tilo Niebel. Sie durften.

Mega-Motorrad  für den Weltfrieden

Beim täglichen Betrachten des Modells reifte nun die Idee: „Als Motorradbauer wünscht man sich natürlich beim Anblick der zwölf Zylinder noch ein Lenker und ein gemütliche Sattel dazu“, sagt Tilo Niebel. Das Motormodell konnten sie  nicht verbauen, deswegen suchten sie in der Schrauber-Gemeinschaft. Nach drei Jahren fanden sie einen  Sammler in Mecklenburg, der einen T55-Motor hatte. Sie kauften ihn und die Arbeit begann.

Das Panzerbike in Aktion

„Wir haben uns quasi ein Jahr in der Werkstatt eingeschlossen“, erzählt Wilfried Niebel. Das Motorrad sollte dabei nicht nur  schwer werden, sondern auch eine Aussage haben. „Wir lebten zu DDR-Zeiten im grenznahen Bereich und erlebten den Kalten Krieg hautnah“, sagt Niebel. Deswegen wollten sie mit dem Riesen-Bike auch ein Monument für den Weltfrieden schaffen. Wie das? „Wir haben nur Dinge verbaut, die früher mal zu militärischen Zwecken genutzt wurden“, sagt Tilo Niebel. Den Seitenwagen etwa schnitte sie aus der Transporthülle einer russischen Mittelstreckenrakete heraus. Der Scheinwerfer kam von der Grenzsicherung. Und die Diesel-Rückführungsleitung wurde aus einem Bluttransfusionsgerät gebastelt, das sie in einem Militärkrankenhaus fanden.

Das Motorrad kam 2007 ins Guinness-Buch der Rekorde. Sie haben es schon auf Veranstaltungen weltweit gezeigt. In der Bikeschmiede, ihrer Werkstatt, bauen sie derzeit allerdings an kleineren Maschinen. Auf der Hebebühne  steht gerade eine AWO, das Viertakt-Kultmotorrad der DDR. An den Wänden und von der Decke hängen Ersatzteile aller Art. „Wir suchen auch ständig neue technische Geräte, egal was, egal ob ganz oder kaputt“, sagt Tilo Niebel. Und ein nächstes Mammutprojekt? Das sei noch nicht geplant. Doch Wilfried Niebel meint: „Im nächsten Jahr sind wir mit dem Umbau unserer Gebäude fertig, dann gibt es im Kopf auch wieder Platz für neue, verrückte Ideen.“

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