Flüchtlings-Spezial: Geschafft?

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Ein Jahr Flüchtlingskrise

Götz Ulrich

Xhino Gula

Bürgerinitiative Vockerode

Jassem Jassem

Andreas Siegert

August 2015

Es ist ein Dienstag, an dem sich Jassem Jassem aufmacht. Der 29. August 2015, ein Tag, an dem sich das Leben des 30-Jährigen ändert. Der junge Syrer lebt damals im Libanon. Seine Heimatstadt, das syrische Aleppo, hatte er Jahre zuvor bereits verlassen. „Dort war es zu gefährlich. Der Krieg hatte alles kaputt gemacht. Es gab keine Chance mehr, dort zu leben“, sagt Jassem. Auch seine Eltern flüchteten mit ihm in den Nachbarstaat. Doch nun, am 29. August, will er weiter. Weg aus dem Libanon, wo er studierte und als Chemielaborant arbeitete. Denn die Situation dort in dem kleinen Land ist für ihn unerträglich geworden.

Innenminister Thomas de Maizière korrigiert die eigene Flüchtlings-Prognose. Anstatt 450.000 Menschen, werden nun 800.000 erwartet.

Rund drei Wochen bevor sich Jassem auf den Weg macht, ist Xhino Gula, 17, aus Durres in Albanien, bereits in Halberstadt. In der zentralen Aufnahmestelle für Asylbewerber stellt er am 11. August seinen Asylantrag. Sein großer Traum ist eine Ausbildung zum IT-Spezialisten, doch das notwendige Geld für die Privatschule kann seine Familie nicht aufbringen. Wie tausende andere junge Albaner hofft Gula in Deutschland auf eine Perspektive, die es in seinem Heimatland nicht gibt.

Albanien ist eines der ärmsten Länder Europas, nach einer Erhebung der Weltbank leben sieben Prozent der Bevölkerung in absoluter Armut: Sie haben pro Kopf weniger als 600 US-Dollar im Monat zur Verfügung.

Was Gula nicht weiß: Auf Bundesebene wird zu dieser Zeit bereits diskutiert über eine Ausweisung von Albanien, Kosovo und Montenegro als sogenannte sichere Drittstaaten. Wer aus einem solchen kommt, hat in Deutschland kein Recht auf Asyl. Der Traum von Xhino Gula und die große Politik – es sind zwei Welten, die nicht zueinander passen. Die Zeit arbeitet gegen den jungen Albaner.

FluechtlingszuzugSaAn_2009bis2015

„Wir haben so vieles geschafft, wir schaffen das. Wir schaffen das, und wo uns etwas im Wege steht, muss es überwunden werden.“
Angela Merkel im August 2015

Im ganzen Land wird heftig über den Zuzug von Flüchtlingen diskutiert. Eine Einwohnerversammlung in Bad Kösen (Burgenlandkreis) steht kurz vor dem Abbruch. “Zum ersten Mal gab es kaum Unterstützung für die Aufnahme”, sagt Landrat Götz Ulrich (CDU). Wer die Unterbringung von Flüchtlingen auch nur ansatzweise positiv betrachtet habe, sei niedergeschrieen worden. Seitdem wird der Ton deutlich rauer, die Stimmung in der Bevölkerung schlechter.

Ulrich ist ein ruhiger, besonnener Mann. Aber jetzt fragt er sich allmählich, wie es weitergehen soll, wenn die Zahl der Geflüchteten weiter steigt. Immer öfter müssen der Landrat und seine Mitarbeiter sich in Bürgerversammlungen ausbuhen und beschimpfen lassen. “Ich habe das als extreme psychische Belastung empfunden.” Götz Ulrich ist Christ, Halt findet er in dieser Situation in seinem Glauben: “Manchmal habe ich mir im Auto noch ein aufbauendes Kirchenlied angehört, bevor ich den Saal betreten habe.”

September 2015

Graffito in Brasilien. Foto: Reuters/Paulo Whitaker

Das Bild des toten Flüchtlingsjungen Aylan Kurdi wird zum Sinnbild der Flüchtlingsdebatte. Der Dreijährige wurde am Strand angeschwemmt, nachdem sein Boot auf dem Mittelmeer gekentert war.

Auch Jassem Jassem besteigt ein Schlauchboot, um von der Türkei nach Griechenland zu gelangen. Es ist der gefährlichste Teil seiner Flucht. „Ich hatte von den vielen Toten gehört“, sagt Jassem. 1 000 Dollar bezahlt er einem Schlepper. Die Überfahrt geht gut. Mit Bussen und zu Fuß durchquert er Griechenland, Mazedonien und Serbien. Schließlich gelangt er nach Ungarn. Und dort passiert, was auf einer Flucht nicht passieren sollte. In einem Waldstück, mitten in der Nacht, stürzt Jassem.

In Ungarn warten immer mehr Flüchtlinge auf ihre Weiterreise. Wegen der chaotischen Zustände öffnen Deutschland und Österreich die Grenzen. In den folgenden Tagen kommen zehntausende Flüchtlinge in München an. Kritiker bemängeln, dass Merkel damit einer unkontrollierbaren Einwanderung Tür und Tor geöffnet hat.

Der Arzt aus Österreich vermittelt ihm ein Krankenhaus in Grenznähe. Dort wird Jassem operiert – kostenlos. Nach 14 Tagen kann er weiterreisen. Am 24. September kommt er in Passau an. Über Regensburg gelangt er nach Halberstadt.

Sachsen-Anhalt verdreifacht die Kapazität für Flüchtlinge. Neben Halberstadt wird als zweite Zentrale Aufnahmestelle das Maritim-Hotel in Halle ausgewählt. Das Land stellt 700 Millionen Euro für die Unterbringung und Betreuung von Flüchtlingen bereit. 700 neue Stellen sollen geschaffen werden.

  • Das Maritim-Hotel in Halle wurde im September zu einer Flüchtlingsunterkunft umfunktioniert.

Im Burgenlandkreis kommen wöchentlich 87 neue Geflüchtete an. Das Hauptproblem, neben dem wachsenden Unmut der Bürger: “Kriegen wir genügend Unterkünfte zusammen?” Landrat Ulrich bildet ein Team von fünf Mitarbeitern, die Städte und Gemeinden nach freiem Wohnraum abklappern. So gelingt es am Ende, die Belegung von Sporthallen und Schulen zu vermeiden. Der Landrat räumt aber ein: In den ersten Wochen dieses chaotischen Sommers 2015 sei die Kreisverwaltung “eine Zeitlang auf Sicht gefahren”.

Auch in Vockerode heizt sich die Stimmung auf. In dem kleinen Ort mit knapp 1300 Einwohnern quartiert der Landkreis Wittenberg seit 2013 seine Flüchtlinge ein. Damals gründete sich auch die Bürgerinitiative, die sich für eine dezentrale Unterbringung im Landkreis einsetzt. In Vockerode wurden die Flüchtlinge in vier fast leerstehenden Wohnblöcken im Ortskern untergebracht. Mitte 2015 sind es etwas mehr als 200 Menschen, die dort leben. Doch mit dem Zuzug der Flüchtlinge wird klar, dass es mehr werden. Der Landkreis entscheidet sich, zusätzlich 90 Wohnungen mit Platz für 360 weitere Asylbewerber in den Blöcken herzurichten. Auf einer Bürgerversammlung wird das den Einwohnern mitgeteilt.

Oktober 2015

Das sogenannte Asylpaket 1 tritt in Kraft. Asylverfahren sollen beschleunigt werden. Albanien, Kosovo und Montenegro werden zu sicheren Herkunftsstaaten erklärt – damit ist auch klar, dass Xhino Gula, der junge Flüchtling aus Albanien, keine Chance hat in Deutschland zu bleiben.

Bei Jassem Jassem sieht das anders aus. Als Flüchtling aus Syrien droht ihm keine Abschiebung. Er darf in Deutschland bleiben und bezieht am 7. Oktober eine Wohnung in Coswig. Als erstes sucht er sich einen Sprachkurs. „Ich wusste, dass ich die Deutsch sprechen muss, um eine Zukunft zu haben.“

Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) fordert eine Obergrenze. Sachsen-Anhalt soll pro Jahr maximal 11 000 Flüchtlinge aufnehmen. Er ist der erste CDU-Ministerpräsident, der eine solche Forderung ausspricht.

Die Bürgerinitiative Vockerode organisiert einen Protest-„Spaziergang“ durch den Ort. An der Flüchtlingsunterkunft vorbei zu laufen, wird ihnen verboten.

Protest-„Spaziergang“ durch Vockerode. Foto: Alexander Baumbach

November 2015

Der Zuzug der Flüchtlinge nach Sachsen-Anhalt erreicht seinen Höchststand: 8367 Schutzsuchende kommen im November ins Land.

FluechtlingszuzugSaAn2015

Die Bürgerinitiative Vockerode wendet sich mit ihrem Protest an den Petitionsausschuss des Landtages. Antwort soll sie erst acht Monate später bekommen. Am 22. November protestieren 180 Einwohner ein zweites Mal. Doch die Resonanz in der Politik bleibt gering. Dafür werden die Probleme im Ort aus Sicht der Bürger immer größer.

Dezember 2015

Nach Sachsen-Anhalt kommen erstmals wieder deutlich weniger Flüchtlinge. Im gesamten Jahr 2015 waren es laut Innenministerium 42 000. Laut der aktuellsten Zahlen wurden 34 340 Flüchtlinge 2015 im Land verteilt. Die anderen sind von allein weitergegangen.

Im Burgenlandkreis entschließt sich die Familie von Götz Ulrich, einen unbegleiteten minderjährigen Flüchtling bei sich aufzunehmen. Mittlerweile besucht der 16-jährige Syrer eine Berufsschule. “Jetzt haben wir selber jeden Tag Integration zu bewältigen”, sagt der Landrat. Er kann dabei nun mitreden, aus eigener Erfahrung.

Unbekannte fluten am 17. Dezember eine geplante Flüchtlingsunterkunft in Gräfenhainichen (Kreis Wittenberg). Foto: Thomas Klitzsch

Januar 2016

Zu Beginn des Jahres sind in Vockerode fast 700 Asylbewerber in 149 Wohnungen untergebracht. Die Zahl steigt bis zum Ende des Monats auf 724. Die Bürgerinitiative schreibt einen offenen Brief an Innenminister Holger Stahlknecht (CDU). Darin steht: „Kommen Sie nach Vockerode und urteilen Sie selbst: keine Infrastruktur, keine Freizeitmöglichkeiten, keine Integration! Sehen Sie sich die total überfüllten Schulbusse an”.

Xhino Gula, 17, aus Albanien lebt mittlerweile in einer Unterkunft für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in Schönebeck (Salzlandkreis). Am 8. Januar lehnt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge seinen Asylantrag als “offensichtlich unbegründet” ab. Weil sein Heimatland mittlerweile ein sicherer Drittstaat ist, gilt er als Wirtschaftsflüchtling – und die haben kein Recht auf Asyl in Deutschland. Weil Gula noch minderjährig ist, wird er vorerst geduldet, muss also nicht ausreisen. Wie lange, weiß niemand.

Februar 2016

In Gräfenhainichen wird auf die geplante Flüchtlingsunterkunft geschossen. Mit 13 Schüssen werden unter anderem Fensterscheiben zerstört. Verletzt wird niemand. Es ist der sechste Anschlag auf das Haus binnen zwei Monaten.

Holger Stahlknecht (CDU) reagiert auf den offenen Brief aus Vockerode und bezeichnet die Situation im Ort als “nicht hinnehmbar”. Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) schaltet sich ein. Am 4. Februar trifft er sich mit dem Chef des Landesverwaltungsamtes, Thomas Pleye, bei Landrat Jürgen Dannenberg (Die Linke). Es wird eine schnelle Absenkung der Geflüchteten-Zahl in Vockerode vereinbart.

Auch das ist Vockerode: Briefkästen an einem der Häuser, in denen die Flüchtlinge wohnen. Foto: Andreas Stedtler
Auch das ist Vockerode: Briefkästen an einem der Häuser, in denen die Flüchtlinge wohnen. Foto: Andreas Stedtler

BQI GmbH in Schönebeck, ein Bildungsträger: Hier absolviert Xhino Gula aus Albanien in den Winterferien ein Praktikum. BQI-Chef Hans Weber lobt ihn über den grünen Klee: “Er ist hoch motiviert, leistungswillig und bereit, sein Schicksal in die eigene Hand zu nehmen.” Weber bietet dem jungen Albaner eine Lehrstelle als IT-Kaufmann an. Xhino Gula, der mittlerweile passabel deutsch spricht, wird damit unfreiwillig zum Vorzeigeflüchtling: gut integriert, engagiert, zielstrebig. Politik und Wirtschaft wünschen sich Muster-Migranten wie ihn, die Fachkräfte von morgen, die Deutschland so dringend braucht. Dennoch soll er abgeschoben werden. Seine Geschichte ist eine, in der Talkshow-Reden und die die triste deutsche Wirklichkeit knallhart aufeinander prallen.

Das Rettungsschiff Aquarius startet seine Mission im Mittelmeer (Foto: Patrick Bar)
Das Rettungsschiff Aquarius startet seine Mission im Mittelmeer (Foto: Patrick Bar)

Am 4. Februar 2016 verlässt das Schiff MS Aquarius Bremerhaven. Das Ziel: Im Mittelmeer Flüchtlinge aus Seenot retten. An Bord des Schiffes befindet sich neben der seemännischen Besatzung zusätzliches Seenotrettungs-Personal und ein Team von Ärzte der Welt. Die Einsätze werden von der Maritimen Rettungsleitstelle für das Mittelmeer in Rom koordiniert. Dort wird auch entschieden, wohin die Aquarius die geretteten Personen bringt. Einsatzgebiet des Schiffes ist das Seegebiet zwischen Sizilien, Lampedusa und Libyen.

Beim ersten dreiwöchigen Seeeinsatz werden insgesamt 193 Menschen gerettet. Zu dieser Zeit weiß der ehemalige Landtagsabgeordnete für Sachsen-Anhalt Andreas Siegert noch nichts von den schrecklichen Szenen, die sich täglich auf dem Mittelmeer abspielen.

März 2016

Die Balkan-Route wird geschlossen. Im griechischen Idomeni entsteht ein riesiges Flüchtlings-Lager. In Deutschland sinkt die Zahl der Neuankömmlinge deutlich.

Flüchtlinge an einem Zaun im griechischen Lager Idomeni. Foto: AP
Ein kalter Morgen in Idomeni. Foto: Pacific Press

Immer wieder erschüttern heftige Proteste von Flüchtlingsgegnern Deutschland. Die Orte, in denen die teils gewaltsamen Ausschreitungen stattfinden, werden zum Synonym für Fremdenfeindlichkeit. Eine Übersicht:

Tröglitz ist eine Zäsur. Erstmals tritt im März 2015 ein Kommunalpolitiker zurück, weil er von Rechtsextremen bedroht wird. Unter Führung eines NPD-Kreisrates wollen Asylgegner vor dem Haus von Bürgermeister Markus Nierth gegen die Aufnahme von Flüchtlingen in dem 2700-Einwohner-Ort demonstrieren; Nierth sieht sich und seine Familie nicht ausreichend geschützt. Erst als er sein Amt niedergelegt hat, verfügt der Landkreis eine andere Route für die Rechten-Demo. Der Rücktritt ist nur der Anfang. Wenige Wochen später brennt das für die Flüchtlinge vorgesehene Mehrfamilienhaus im Ort – Brandstiftung, aber der Fall wird nie aufgeklärt. Im Oktober nehmen die Ermittler zwar einen mutmaßlichen Täter fest. Doch der Verdacht gegen den Mann, laut seinem Facebook-Profil ein NPD-Sympathisant, bestätigt sich nicht. Im Juli dieses Jahres verkündet die Staatsanwaltschaft Halle: Die Ermittlungen werden eingestellt. Mittlerweile leben zwei Dutzend Geflüchtete im Ort.
Gewalttätige Proteste gegen eine Flüchtlingsunterkunft bringen Freital bei Dresden Ende Juni 2015 bundesweit in die Schlagzeilen. Gegen die rund 100 Migranten, die seit Monaten in dem ehemaligen Hotel Zuflucht gefunden haben, wird schon lange im Internet gehetzt. Als verantwortliche Politiker auf einer Bürgerversammlung verschweigen, dass die Unterkunft zu einer Erstaufnahmeeinrichtung erweitert werden soll und unangekündigt Busse mit weiteren Asylbewerbern anrollen, bricht sich der Volkszorn in Gewalt Bahn – befeuert von der fremdenfeindlichen Dresdner Pegida-Bewegung. Böller fliegen, Beobachter sprechen von einer pogromartigen Stimmung. Im April dieses Jahres übernimmt die Bundesanwaltschaft die Ermittlungen gegen sieben Männer und eine Frau, die der rechtsterroristischen„Gruppe Freital“ angehören sollen. Ihnen werden die Bildung einer terroristischen Vereinigung, versuchter Mord und Sprengstoffanschläge vorgeworfen. Der Prozess soll voraussichtlich Ende dieses Jahres beginnen.
In Heidenau in der sächsischen Schweiz protestieren aufgebrachte Einwohner Ende August 2015 gegen eine Flüchtlingsunterkunft in einem ehemaligen Baumarkt; ein Stadtrat der NPD ist der Organisator. Es gibt nächtliche Straßenschlachten mit der Polizei, bei der Steine und Böller fliegen. Zig Beamte werden verletzt. SPD-Chef Sigmar Gabriel reist in den Ort und bezeichnet die Randalierer als “Pack”. Auch Kanzlerin Angela Merkel fährt nach Heidenau, macht Fotos mit Geflüchteten, wird aber auch heftig beschimpft. Bundespräsident Joachim Gauck spricht angesichts der Ausschreitungen und des Hasses von „Dunkeldeutschland“.
Im Erzgebirgsdörfchen Clausnitz marschiert der Mob auf: Über eineinhalb Stunden blockiert eine wütende Menschenmenge im Februar 2016 einen Bus mit 20 Flüchtlingen. Die rund 100 Demonstranten drohen und schimpfen: „Verpisst euch!“ Die Bus-Insassen sind verängstigt, einige weinen. Die Polizei schaut zu. Als die grölende Menge das Feld räumt, zerrt ein Polizist gewaltsam einen Jungen aus dem Bus. Von der Blockade gibt es Videos, sie lösen Entsetzen aus. Dennoch verteidigt der Chemnitzer Polizeipräsident Uwe Reißmann später seine Beamten, sie hätten verhältnismäßig gehandelt. In Bautzen, Ostsachsen, wird wenige Tage nach der Belagerung von Clausnitz ein zur Flüchtlingsunterkunft umgebautes Hotel angezündet. Schaulustige behindern die Feuerwehr bei den Löscharbeiten, andere applaudieren und brüllen „Kanaken“.

April 2016

29. April: Die Polizei kommt früh am Morgen. Gegen 7.30 Uhr klingeln zwei Beamte an der Tür der Unterkunft von Xhino Gula in Schönebeck. Sie setzen den jungen Albaner in ein Polizeiauto und bringen ihn zum Flughafen Leipzig-Halle. Gula wird abgeschoben, als einer von 146 Albanern im ersten Halbjahr 2016. Es bleibt Xhino Gulas großer Traum, für eine IT-Ausbildung nach Deutschland zurückzukehren. Über ein Visum wäre das möglich. Doch die Ausländerbürokratie setzt ihm hohe Hürden: Als abgeschobener Asylbewerber unterliegt Gula einer Einreisesperre von zweieinhalb Jahren. Er hofft, dass diese Frist auf zehn Monate verkürzt werden kann. Sein Anwalt, Wolfgang Breidenbach aus Halle, müsste das bei der Ausländerbehörde beantragen. “Das ist aber erst dann sinnvoll, wenn Xhino sich konkret zur Einreise nach Deutschland entschließt”, sagt er. Wie geht es ihm heute?

Mitte April dieses Jahres zeigt Xhino Gula seine Duldung. Zwei Wochen später wird er abgeschoben. Foto: Andreas Stedtler
Mitte April dieses Jahres zeigt Xhino Gula seine Duldung. Zwei Wochen später wird er abgeschoben. Foto: Andreas Stedtler

Es war im April, als Andreas Siegert einen Bericht über das Rettungsschiff „Aquarius“ las. „Schockierend und ergreifend, was da jeden Tag passiert“, erzählt der 56-Jährige. Der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler und ehemalige Landtagsabgeordnete hatte sich schon oft mit Flüchtlingsthemen auseinandergesetzt. Meist wissenschaftlich. Zuletzt mit einer Studie darüber, wie durch Einwanderung und eine Novellierung des Asylrechts der demografische Wandel in Deutschland verlangsamt werden könnte. „Viel Theorie“, sagt er und will eigene Eindrücke von Fluchtwegen und Geflüchteten gewinnen.

„Was da täglich auf dem Meer passiert, ist eine Anklage der europäischen Politik.“ Die Werte der eigenen Gesellschaft, die Würde des Menschen, dürfe nicht an der Grenze zu anderen Ländern aufhören. Siegert will an der Basis aktiv werden. Er schreibt eine E-Mail an den Verein SOS Mediterranée in Berlin, der die Aquarius durch Spenden finanziert. Er will anheuern und bekommt das O.K.. Der Verein kümmert sich aber nur um den Transport. Ausrüstung und medizinische Untersuchungen, darunter ein Seetauglichkeitszeugnis, muss Siegert selbst besorgen. Die Familie unterstützt ihn.

  • Als erstes verteilen die Retter Schwimmwesten. (Foto: Giorgos Moutafis)

Mai 2016

In Magdeburg wird eine neue Erstaufnahme-Einrichtung eröffnet. Sie soll über 300 Geflüchteten Platz bieten und andere Standorte, die nicht für die Unterbringung geeignet sind, ablösen.

Jassem Jassem macht einen weiteren Schritt zu einem Leben in Deutschland. In Wittenberg veranstaltet die örtliche Agentur für Arbeit eine Jobmesse für Flüchtlinge. Auch der 30-jährige Syrer aus Aleppo nimmt daran teil. Als Chemielaborant hat er beste Chancen, sagt man ihm. Sofort wird ein Probearbeiten bei einer regionalen Firma vereinbart. Jassem ist zufrieden. Später stellt sich jedoch heraus, dass er bei dem Job eher für Hilfstätigkeiten vorgesehen ist. Jassem kündigt wieder. Ein Rückschlag für ihn.

Bei der Jobbörse für Flüchtlinge in Wittenberg kommt Jassem Jassem auch mit Orthopädieschuhmacher Frank Bergholz ins Gespräch. Foto: Thomas Klitzsch

Juni 2016

In Vockerode nimmt die Zahl der Flüchtlinge konstant ab. Erstmals leben wieder weniger als 400 Menschen in den Wohnblöcken. Die von Ministerpräsident Haseloff (CDU) versprochene Absenkung ist also eingetreten. Für Vockerode wird gar ein Zuzugsstopp verhängt. Die Bürgerinitiative sieht das als einen Erfolg ihrer Bemühungen. Unzufriedenheit bleibt trotzdem.

Derweil schiebt Sachsen-Anhalt regelmäßig abgelehnte Asylbewerber ab. Während es im vergangenen Jahr 997 waren, sind es bis Ende Juni dieses Jahres schon 562 Flüchtlinge.

Juli 2016

Die Ermittlungen zum Brandanschlag in Tröglitz werden ergebnislos eingestellt.

In der Nacht zum 4. April 2015 brannte in Tröglitz ein Haus, in das Flüchtlinge einziehen sollte. Deutschlandweit wird über den Vorfall diskutiert. Foto: Torsten Gerbank

In einer Regionalbahn bei Würzburg geht ein junger Mann aus Afghanistan mit einer Axt auf Passagiere los. Fünf Menschen werden schwer verletzt, die Polizei erschießt den Attentäter. Eine Woche später sprengt sich im fränkischen Ansbach ein Syrer mit einer Bombe in die Luft; zwölf Besucher eines Musikfestivals werden verletzt. Es sind die ersten beiden von Flüchtlingen begangenen islamistischen Anschläge in Deutschland – die Republik ist geschockt.

“Damit ist uns der Terror ganz nahe gekommen”, sagt Götz Ulrich, der Landrat im Burgenlandkreis. “Ansbach hätte auch Naumburg, Weißenfels oder Zeitz sein können.” Auch im Burgenlandkreis gebe es Flüchtlinge, auf die das Profil des Täters von Ansbach zutreffe – psychisch labil, von Abschiebung bedroht. “Wir können nicht so weitmachen, als ob es die Anschläge nicht gegeben hätte.” Die Konsequenzen: Der Landkreis überprüft Sicherheitskonzepte – für Großveranstaltungen, für Schulen und Kitas, für das Landratsamt selbst.

In der ersten Jahreshälfte 2016 wurden laut Bundeskriminalamt in 202 Fällen Politiker und andere Amtsträger in Zusammenhang mit der Asylpolitik bedroht oder gewaltsam angegriffen. Diese Statistik wird 2016 erstmals erhoben. Götz Ulrich kann sich gut hineinversetzen in die Betroffenen. Im Zusammenhang mit dem Fall Tröglitz hat er schon im vergangenen Jahr Morddrohungen erhalten.

Jassem Jassem bekommt eine zweite Job-Chance. Das Berufsbildungswerk Wittenberg sucht einen Sprachmittler für ein Projekt mit Flüchtlingen. Es geht um die Vermittlung von Arbeitsgelegenheiten. Jassem passt perfekt ins Berufsprofil, wie Geschäftsführerin Sabine Helling erklärt.

Das Projekt ist zwar zeitlich begrenzt, doch Jassem ist mit seinem ersten richtigen Job in Deutschland glücklich. Ob er jemals wieder in Syrien wird leben können, weiß er nicht. Aber vielleicht stellt sich diese Frage auch gar nicht: „Wenn ich in Deutschland weiter arbeiten kann und alles in Ordnung ist, dann will ich bleiben“, sagt er.

Eine Ärztin legt eine rote Rose in den Sarg eines Flüchtlings, der immer Mittelmeer starb. (Foto: Anna Psaroudakis)
Eine Ärztin legt eine rote Rose in den Sarg eines Flüchtlings, der immer Mittelmeer starb. (Foto: Anna Psaroudakis)

2.500 Kilometer südlich, im Mittelmeer, schwappt bei jeder Welle Salzwasser in das Schlauchboot, beim Nachfüllen des Tanks das Benzin aus den Kanistern. Die Schlepper haben die Behälter den Flüchtlingen für den Bordmotor mitgegeben. Einerseits gibt der Sprit Hoffnung, über das Mittelmeer zu kommen. Andererseits ist er die Zutat für eine hochätzende Mischung.

120 Menschen quetschen sich nebeneinander. Die Männer haben sich auf den Rand gesetzt, um die Frauen in der Mitte zu schützen. Doch es ist ihr Todesurteil. Die Dämpfe machen sie benommen. Sie krallen sich aneinander fest, beißen sich aus Panik gegenseitig. Irgendwann werden sie bewusstlos und fallen in die giftige Flüssigkeit aus Benzin und Salzwasser, die sich in der Mitte des Bootes sammelt. Niemand kann sie aufrichten, es ist zu eng. 21 junge Frauen ertrinken an diesem Tag im Boot.

„Diese Gesichter, die das Leben noch vor sich hatten. Sie wollten einfach nur leben“, sagt Andreas Siegert. Er hat Tränen in den Augen. Es ist einer der Schlüsselmomente, die der Unternehmensberater aus Alberstedt (Saalekreis) in den drei Wochen als Helfer auf dem Rettungsschiff Aquarius erlebt hat. Seit Februar patrouilliert es zwischen Lampedusa und Libyen, greift Flüchtlingsboote auf und bringt die Menschen ans italienische Festland für ein Asylverfahren. Rund 700 Menschen rettet die 30-köpfige Besatzung in den ersten drei Juliwochen aus dem Meer.

Von dem, was Siegert auf See erlebt, erfahren die Verwandten per Mail. Das ist zunächst nicht viel. Der Wellengang ist zu stark. „Dann schicken die Schlepper die Boote gar nicht erst los, das wäre rufschädigend für das Geschäft“, erzählt Siegert. Es ist ein ausgeklügeltes System, das sich über Jahre eingespielt hat. Auch die Rettung gehört zum Geschäftsmodell. Es funktioniert durch Hoffnung und Gewalt, Folter und Sklaverei. Die Menschen werden verkauft oder gefangen genommen, um Lösegeld von Angehörigen zu erpressen. „Sie haben so viel Schlimmes erlebt, wurden vergewaltigt und gequält. Lieber sterben sie im Meer, als in Libyen zu bleiben“, sagt Siegert.

Gegen Mitternacht treiben die Schlepper die Flüchtlinge auf die Boote. Meist mit dem Versprechen, dass es sich dabei um hochseetaugliche Schiffe und keine Nussschalen handelt. Wer sich weigert, wird getötet. In den Morgenstunden, sobald die Sonne aufgegangen ist, erreichen die Plastikboote internationale Gewässer. Den Korridor, den die Rettungsschiffe verschiedener Organisationen und Militärs bewachen. „Es alleine ans europäische Festland zu schaffen ist fast unmöglich, vielmehr der sichere Tod“, sagt Siegert. Mehrere Tage sind die Flüchtlinge der prallen Sonne ausgesetzt, ohne ausreichend Treibstoff, Wasser und Proviant.

August 2016

Eine schon vor Monaten geführte Debatte brandet wieder auf: Wie können Flüchtlinge am schnellsten und am besten in den Arbeitsmarkt integriert werden? Der Burgenlandkreis versucht es mit einer lokalen Initiative: In Naumburg, Weißenfels und Zeitz wird Geflüchteten berufsbezogen Deutsch beigebracht. Rund 70 Unternehmen aus dem Kreis bieten Jobs oder Berufspraktika. Auf diese Weise haben bisher 17 Flüchtlinge eine feste Stelle erhalten. “Für die Ausgangslage ist das eine gute Zahl”, sagt Landrat Götz Ulrich.

In den vier Erstaufnahme-Einrichtungen für Flüchtlinge in Sachsen-Anhalt ist Mitte August mehr als die Hälfte der Betten frei. In Halberstadt, Halle, Magdeburg und Klietz (Altmark) sind nur 1964 von 4580 Plätzen belegt. Die Zahl der Flüchtlinge im Land sinkt kontinuierlich.

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